Der Codex
bemerkte, dass Borabay sehr zufrieden wirkte, als er seine Worte übersetzte. Zweifellos fügte er seiner Rede noch einige passende Nuancen hinzu.
Die Bogen der Krieger senkten sich. Diesmal nahmen sie die Pfeile an sich und schoben sie in ihre Köcher.
»Du jetzt lächeln. Kurz lächeln, kein großes Lächeln.«
Tom lächelte knapp, dann wurde seine Miene wieder ernst.
Borabay hielt eine längere Rede, dann wandte er sich wieder Tom zu. »Du den Krieger jetzt auf Tara-Art umarmen und küssen.«
Tom umarmte den Krieger verlegen und küsste ihn so, wie er es von Borabay kan n te, mehrmals seitlich am Hals. Mit dem Ergebnis, dass anschließend rote und gelbe Farbe auf seinem Gesicht und an seinen Lippen klebte. Der Kri e ger revanchierte sich für seine Höflichkeit und bekleckste ihn noch mehr.
»Gut«, sagte Borabay. Er war vor Erleichterung fast hysterisch. »Jetzt alles ist gut! Wir gehen jetzt in Tara-Dorf.«
Das Dorf bestand aus einem freien Platz mit festgetretenem Boden. Er war von zwei unregelmäßig geformten Kreisen mit der Art Schilfhütten umgeben, in denen sie die verga n gene Nacht verbracht hatten. Sie wiesen keine Fenster auf. In der Decke waren Löcher. Vor vielen Hütten brannten Kochfeuer, die von Frauen beaufsichtigt wurden. Wie Tom auffiel, verwendeten sie die französischen Kochtöpfe, Ku p ferpfannen und die rostfreien Solinger Bestecke, die sein Vater damals er-
standen hatte. Als sie den Kriegern auf den Dorfplatz fol g ten, gingen überall Schilftüren auf und Unmengen Me n schen drängten ins Freie, um sie zu begaffen. Die kle i neren Kinder waren splitternackt; die älteren trugen schmutzige Shorts oder einen Lendenschurz. Die Frauen waren mit Stofffetzen bekleidet, die sie sich um die Taille schlangen. Sie waren barbusig; ihre Brüste waren mit roter Farbe b e malt. Viele hatten kleine Metallscheiben an den Lippen und Ohren. Nur die Männer trugen Fede r schmuck.
Es gab keine formelle Begrüßungszeremonie. Die Krieger, die sie mitgebracht ha t ten, verteilten sich und gingen völlig uninteressiert ihren Geschäften nach. Nur die Frauen und Kinder starrten sie neugierig an.
»Was machen wir jetzt?«, fragte Tom, als sie auf dem Platz standen und sich u m schauten.
»Warten«, erwiderte Borabay.
Kurz darauf kam eine zahnlose Greisin aus einer Hütte. Sie war so alt, dass sie g e bückt auf einen Stock gestützt ging. Ihr kurzes weißes Haar verlieh ihr etwas Hexe n haftes. Sie kam den Neuankömmlingen quälend langsam entg e gen. Ohne den Blick ihrer kugelrunden Augen von ihnen abzuwenden, schnalzte sie mit der Zunge und murmelte etwas vor sich hin. Schließlich blieb sie vor Tom stehen und schaute zu ihm auf.
»Nichts tun«, sagte Borabay leise.
Die Greisin hob eine faltige Hand und versetzte Tom e i nen Schlag über die Kni e scheiben. Dann drosch sie - für eine Frau ihres Alters erstaunlich schmerzhaft - dre i mal auf seine Oberschenkel ein, wobei sie weiter etwas vor sich hin murmelte. Schließlich hob sie ihren Knüppel und schlug auf Toms Schienbeine sowie auf seinen Hintern ein. Am Ende ließ sie den Knüppel sinken und griff ihm in den Schritt. Tom schluckte und versuchte nicht zusammenz u zucken, als sie seine Männlichkeit einer eingehenden Pr ü fung unterzog. Dann deutete sie auf seinen Kopf und b e wegte die Finger. Als Tom sich ein wenig vorbeugte, griff sie in sein Haar und zog so heftig daran, dass ihm die Tr ä nen kamen.
Die Greisin wich zurück. Die Untersuchung schien abgeschlossen zu sein. Nun schenkte sie Tom ein zahnloses Lächeln und setzte zu einer längeren Rede an.
Borabay übersetzte: »Sie sagen, du eindeutig Mann, obwohl anders aussehen. Sie dich und deine Brüder einladen, als Gäste in Tara-Dorf zu bleiben. Sie annehmen eure Hilfe, um zu kämpfen gegen böse Männer in Weiße Stadt. Sie s a gen, du jetzt Boss.«
»Wer ist sie?« Tom musterte die Greisin kurz. Sie begaffte ihn noch immer vom Scheitel bis zur Sohle.
»Sie sein Frau von Cah. Pass auf, du ihr gefallen. Sie vielleicht kommt heute Nacht in deine Hütte.«
Dies löste die Spannung, und alle lachten, wobei Philip der Lauteste war.
»Von was bin ich der Boss?«, fragte Tom.
Borabay schaute ihn an. »Du jetzt Kriegshäuptling.«
Tom war sprachlos. »Ja, wieso denn das? Ich bin doch gerade mal zehn Minuten hier.«
»Sie sagen, Tara-Krieger bei Angriff auf weiße Männer versagen. Viele sterben. Du auch weißer Mann. Du verst e hen Feind besser. Du morgen führst Angriff gegen
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