Der Codex
abgehauen.«
Tom registrierte das Wort vermutlich ziemlich gereizt, erwiderte jedoch nichts. Dabei lag ihm eine spitze Bemerkung auf der Zunge. Noch einmal würde er sich nicht von ihr aufziehen lassen. Sie nahmen den Pfad, der sie hier herau f geführt hatte, um zum Lagerplatz zurückzugehen. Als sie die erste Felsansammlung erreichten, brüllte der Jaguar e r neut; der Laut klang in dem dunstigen Wald eigenartig deutlich und klar. Sally blieb stehen und hob das Gewehr. Sie warteten. Wassertropfen sammelten sich; sie fielen von den Blättern und erfüllten den Wald mit leisen klatsche n den Geräuschen.
»Bis jetzt war er nicht vor uns, Sally.«
»Glauben Sie, er ist noch hinter uns her?«
»Ja.«
»Quatsch. Wenn dem so wäre, würde er nicht so einen Krach machen. Außerdem hat er doch gerade erst gefre s sen.« Sie grinste ihn überlegen an.
Vorsichtig marschierten sie auf die Felsen zu. Dort gab es außer einem Haufen Löcher und Nischen nichts.
»Gehen wir auf Nummer sicher und umrunden den Steinschlag«, schlug Tom vor.
»In Ordnung.«
Sie stiegen wieder hinauf, um den Steinhaufen von oben zu umgehen. Der Dunst wurde dichter. Tom merkte, wie seine einzige Garnitur Kleidung die Feuchtigkeit aufsaugte. Er blieb stehen. Er hatte ein leises Rascheln vernommen.
Sally hielt ebenfalls an.
»Sally, gehen Sie hinter mir her«, sagte Tom.
»Ich hab die Kanone. Ich müsste vorausgehen.«
»Gehen Sie hinter mir her!«
»Verflucht noch mal.« Doch sie trat hinter ihn.
Tom zog seine Machete und stiefelte los. Überall um sie herum standen verkrüppelte Bäume mit niedrigen, bemo o sten Ästen. Der Nebel war so dicht, dass man ihre Wipfel nicht erkennen konnte. Dann fiel Tom auf, dass der Wind dem Jaguar nun ihre Witterung zutrug. Er war um sie h e rumgegangen, damit er sie wittern konnte und nicht mehr zu erspähen brauchte.
»Sally, ich spüre, dass er hinter uns her ist.«
»Er ist nur neugierig.«
Tom erstarrte. Da, an die zehn Meter entfernt, stand der Jaguar und offenbarte sich urplötzlich ihren Blicken. Er stand oberhalb ihres Weges auf einem Ast, musterte sie g e lassen und bewegte den Schweif. Er sah so prächtig aus, dass Tom der Atem stockte.
Sally hob ihre Waffe nicht zum Schuss, und Tom verstand weshalb. Es war unmöglich, auch nur zu erwägen, ein so wunderschönes Tier zu vernichten.
Nach einem Augenblick des Zögerns sprang der Jaguar mühelos auf einen anderen Ast und lief geschmeidig über ihn hinweg, ohne die beiden Menschen aus den Augen zu lassen. Seine Muskeln wogten unter dem goldenen Fell, das sich wie fließender Honig bewegte.
»Schauen Sie mal, wie schön er ist«, raunte Sally.
Und er war wirklich schön. Die Raubkatze sprang mit einer unglaublich leichtfüßigen Bewegung auf einen anderen Ast, sodass sie ihnen noch näher kam. Dort verharrte sie und ließ sich langsam nieder. Sie schaute die beiden Menschen herausfordernd und ohne jede Spur von Furcht an und machte keinen Versuch, sich zu verstecken. Außerdem rührte sie sich nicht, wenn man von einem leichten Zucken ihrer Schweifspitze absah. An ihrer Schnauze klebte Blut. Der Blick, mit dem sie Tom und Sally betrachtete, hatte e t was Geringschätziges.
»Er hat keine Angst«, sagte Sally.
Tom wich langsam zurück. Sally tat es ihm gleich. Der Jaguar blieb sitzen und beobachtete sie. Er behielt sie pause n los im Auge, bis er dann schließlich im wabernden Dunst verschwand.
Als sie ins Lager zurückkehrten, hörte Don Alfonso sich ihre Geschichte an. Sein braunes Gesicht legte sich in besorgte Falten. »Wir müssen sehr vorsichtig sein«, sagte er. »Wir dürfen nie wieder über dieses Tier sprechen. Sonst folgt es uns, weil es hören will, was wir reden. Es ist nä m lich sehr stolz und mag es nicht, wenn man schlecht über es spricht.«
»Ich dachte, Jaguare greifen keine Menschen an«, sagte Sally.
Don Alfonso lachte und tätschelte ihr Knie. »Das ist ein guter Witz. Wenn er einen Menschen anschaut ... Was sieht er dann Ihrer Meinung nach?«
»Keine Ahnung.«
»Er sieht ein schwaches, dummes, langsames, aufrecht gehendes Stück Fleisch ohne Hörner, Zähne und Krallen.«
»Warum hat er uns dann nicht angegriffen?«
»Weil er, wie alle Katzen, gern mit seiner Beute spielt.«
Sally schüttelte sich.
»Es ist nicht erfreulich, von einem Jaguar gefressen zu werden, Curandera. Sie fressen zuerst die Zunge, aber sie warten nicht immer ab, bis man tot ist. Wenn Sie noch mal die Gelegenheit haben, töten Sie
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