Der Codex
seine Kleidung durchnäs s te.
Nach zehn langen Minuten tauchte in einer Felsöffnung ein Kopf mit zwei glänzenden schwarzen Augen auf. Ein Tier, das wie ein überdimensionales Meerschweinchen au s sah, trat schnüffelnd ins Freie.
Der Schuss krachte augenblicklich. Das Tier quiekte laut und fiel auf den Rücken.
Sally stand auf. Sie konnte ein Grinsen nicht unterdrü c ken.
»Guter Schuss«, bemerkte Tom.
»Danke.«
Tom zückte seine Machete und machte sich auf, um das Tier in Augenschein zu nehmen. Er fühlte sich als Schläc h ter nicht recht wohl in seiner Haut, aber irgendwann mus s te er schließlich damit anfangen.
»Ich gehe schon mal weiter.«
Tom nickte und drehte die Beute mit dem Schuh um. Es war so ein dickes, großes Nagetier mit gelben Schneidezähnen und dichtem Fell. Obwohl er nicht wild auf diese Aufgabe war, hob er die Machete. Er schlitzte das Tier auf, nahm es aus und schnitt ihm Kopf und Tatzen ab. Dann zog er ihm das Fell ab. Alles roch stark nach Blut. So hun g rig Tom auch war, Appetit hatte er plötzlich keinen mehr. Er war zwar nicht empfindlich - als Tierarzt hatte er ja nun schon viel Blut gesehen -, aber es gefiel ihm nicht, auf Seiten des Tötens zu stehen. Das Heilen war ihm lieber.
Dann hörte er wieder ein Geräusch, diesmal ein sehr leises Knurren. Tom hielt inne und lauschte. Dem Knurren folgte ein leises und gereiztes Fauchen. Es ließ sich schwer sagen, woher es kam - wahrscheinlich von oben, aus den Felsen über ihm. Tom hielt nach Sally Ausschau. Er lokalisierte sie etwa zwanzig Meter entfernt, unterhalb eines Steinschlages, eine schlanke, sich lautlos im Dunst bewegende Gestalt. Dann verblasste sie.
Tom zerlegte die Beute in vier handliche Portionen und verpackte sie in Palmwedel. Es war niederschmetternd, wie wenig Fleisch es eigentlich war - kaum der Rede wert. Aber vielleicht erwischte Sally ja noch etwas Größeres, vielleicht einen Hirschen?
Als Tom mit dem Verpacken der Beute fertig war, hörte er wieder ein Geräusch - ein sanftes, leises Schnurren. Es war ihm so nahe, dass er zusammenzuckte. Er wartete ab, lauschte und spannte seine Muskeln. Plötzlich wurde ein Schrei laut, der ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Dann wurde er zu einem hungrigen Knurren. Tom sprang mit der Machete in der Hand auf und versuchte in Erfa h rung zu bringen, aus welcher Richtung das Geräusch g e kommen war, doch zwischen den Bäumen und Felsen sah er nichts. Der Jaguar hatte sich gut versteckt.
Tom schaute den Hang hinab, wo Sally im Dunst untergetaucht war. Es gefiel ihm nicht, dass der Jaguar nach dem Schuss nicht das Weite gesucht hatte. Er hob die Machete, ließ das zerlegte Nagetier liegen und eilte an die Stelle, wo er Sally zuletzt gesehen hatte.
»Sally?«
Der Jaguar brüllte erneut. Diesmal schien er sich genau über Tom zu befinden. Er fiel instinktiv auf die Knie, doch er erblickte nur bemooste Felsen und tote Baumstämme.
»Sally!«, rief er lauter. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«
Stille.
Tom lief den Abhang hinunter. In seinem Herzen war Panik. »Sally!«
»Ich bin hier unten«, erwiderte eine schwache Stimme.
Tom hastete weiter abwärts. Er rutschte auf nassen Blättern aus und trat Steinchen los, die den steilen Hang hinabrollten. Der Dunst wurde immer dichter. Dann hörte er hi n ter sich wieder das fast menschlich klingende Husten und Fauchen. Das Tier verfolgte ihn.
»Sally!«
Sally tauchte aus dem Dunst auf. Sie hielt das Gewehr noch in den Händen, und ihre Stirn war gerunzelt. »Ihr G e schrei hat mich an meinem Schuss gehindert.«
Tom blieb vor ihr stehen, dann schob er die Machete in den Gürtel. Er war verlegen. »Ich hab mir halt Sorgen g e macht. Die Laute, die der Jaguar ausstößt, gefallen mir nicht. Er jagt uns.«
»Jaguare jagen keine Menschen.«
»Sie haben doch gehört, was mein Bruder gesagt hat ... Was seinem Führer passiert ist.«
»Ehrlich gesagt, ich glaube das nicht.« Sally setzte eine finstere Miene auf. »Jetzt können wir ohnehin umkehren. In diesem Nebel treffe ich sowieso nichts mehr.«
Sie stiegen wieder zu der Stelle hinauf, wo sie das erlegte Nagetier liegen gelassen hatten. Es war nicht mehr da. Sie sahen nur ein paar zerfetzte, blutige Palmwedel.
Sally lachte. »Er hat Sie nur verjagt, um sich unser Abendessen einzuverleiben.«
Tom errötete vor Verlegenheit. »Er hat mich nicht verjagt. Ich bin gegangen, um Sie zu suchen.«
»Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte Sally. »Ich wäre vermutlich auch
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