Der Colibri-Effekt
vor Rutger halten.
Er konnte
Sedat schon sehen, der mit dem Rücken zu ihm ganz in der Nähe von Jahns Nissan
stand. Von den dann folgenden Ereignissen wurde er allerdings überrascht. Er
sah noch, dass Sedat von einem Mann angesprochen wurde, den er nicht richtig
erkennen konnte, da Sedat ihn verdeckte. Dann versuchte Sedat urplötzlich seine
Waffe zu ziehen, drehte sich aber schließlich mit merkwürdig gekrümmtem Körper
zu dem Mann um und fiel zu Boden. Jetzt hatte Dag freie Sicht. Er blickte einem
alten Bekannten direkt in die Augen: Rutger Kesselring. Hinter dem Hammerskin
hatten sich drei seiner muskelbepackten Kameraden mit gezogenen Schusswaffen
aufgebaut, Rutger selbst stand mit einem blutverschmierten Kampfmesser der
deutschen Wehrmacht da und fixierte Dag voller Hass. Von einem nüchternen Deal
zwischen wohlmeinenden Geschäftspartnern konnte keine Rede mehr sein.
Rechts
und links von ihnen stoben die Menschen auseinander. In ihren panischen
Gesichtern konnte man ihre Gedanken lesen: Nicht schon wieder ein Breivik in
diesem Land, nicht schon wieder ein Utøya. Das Massaker auf der Ferieninsel im
August 2011 hatte sich tief in die norwegische Seele eingebrannt. Niemand in
diesem friedlichen Land wollte ein solches Trauma noch einmal durchleben
müssen, und doch stand jetzt ein glatzköpfiger Nazi mit einem bluttriefenden
Messer mitten in einer kleinen Einkaufsstraße im Touristenstädtchen Risør und
beugte sich über einen Mann, den er gerade niedergestochen hatte. Dicht
dahinter drei schwer bewaffnete Hammerskins.
Rutger ließ
das Messer fallen und griff an den Hosenbund nach seiner Pistole. Auch Dag
hatte die Beretta gezogen, doch bevor er abdrücken konnte, verspürte er schon
einen heftigen Schlag. Er taumelte zurück, dann traf ihn eine weitere Kugel in
die Brust. Er sank auf die Knie, und die Waffe entglitt seinen Händen. Rutger
Kesselrings Gesicht verschwamm vor Dags Augen, dann waren plötzlich Befehle zu
hören. Dag Moen kippte tot nach vorn auf den kalten Teer, während wie aus dem
Nichts schwarz gekleidete Männer einer norwegischen Spezialeinheit beide Seiten
der Sundgata blockierten. Rutger und seine Kumpane saßen in der Falle.
Doch die
Hammerskins hatten nicht die geringste Absicht, sich kampflos zu ergeben, und
sprangen hinter die geparkten Autos in der inzwischen menschenleeren Straße.
Etwa eine Minute lang versuchten die Norweger vergeblich die Nazis zum Aufgeben
zu bewegen, also wechselten sie die Strategie und warfen Tränengasgranaten. Das
hatte Folgen. Rutger war der Erste, der sich mit einem kalten Lächeln hinter einem
Kombi erhob und das Feuer auf die norwegischen Polizisten eröffnete. In der
kleinen Einkaufsstraße brach die Hölle los.
Rutger
ahnte, dass es vorbei war. Die Drecksbullen hatten sie umzingelt. Jahn hatte
sie in eine Falle gelockt. Er hatte gewollt, dass sie sein Auto fanden. Rutger
selbst hatte erst geahnt, dass hier etwas faul war, als Sedat, dieser kleine,
stinkende Türke, vor ihm stand. Aber den hatte er gleich mal erledigt. Dass Dag
ebenso hier war, konnte nur bedeuten, dass auch er Jahn gefolgt war. Sofort
wusste Rutger, warum sich die Kameraden aus Bergen nicht mehr gemeldet
hatten – sie waren tot. Aber jetzt würden sie ihre Haut so teuer wie
möglich verkaufen. Sie waren Hammerskins, Mitglieder der Division Hess. Sie
würden so viele wie möglich mit in die Hölle nehmen. Er klappte sein Handy auf
und tippte kurz und knapp eine SMS -Botschaft:
»Kommen nicht mehr. Jahn lebt. Operation Heimatschutz, sofort. Rutger.«
Dann ließ
er das Mobiltelefon auf den Teer fallen und zerstörte es mit ein paar Schlägen seines
Gewehrkolbens. Die norwegische Polizei hörte nicht auf, ihnen etwas zuzurufen,
was er aber ignorierte. Dann sah er neben sich eine Granate vorbeirollen, aus
der beißendes Tränengas strömte.
»Endsieg,
Kameraden!«, schrie er, erhob sich aus seiner Deckung und begann zu feuern.
»Was ist
los?«, fragte Lagerfeld den Zivilbeamten neben sich, der gerade telefoniert
hatte.
»Ihre
Befürchtungen haben sich leider bewahrheitet, Herr Schmitt. Das Spezialkommando
hat mehrere schwer bewaffnete Männer in der Nähe des Nissan gestellt. Es kam zu
einem massiven Feuergefecht, bei dem alle Männer getötet wurden. Auch zwei
meiner Kollegen sind verletzt worden, einer davon sogar schwer. Aber
Hauptsache, wir haben sie.«
»Und
jetzt? Was machen wir jetzt?«, fragte Hans Günther Jahn. Lagerfeld drehte sich
zu ihm um. »Es bleibt dabei: Wir
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