Der Colibri-Effekt
heran. Nach so vielen
Dienstjahren war es das erste Mal, dass er mit seinem Wagen auf einem Flugplatz
umherfahren durfte. Der unbedarfte Zuschauer hätte wohl eher vermutet, dass
gleich ein Filmstar oder zumindest doch ein Ölscheich aus dem Flugzeug steigen
würde. Allein, es war nur ein polizeilicher Flugbegleiter in Zivil und kurz
danach Lagerfeld, der einem vollkommen erschöpften Mann dabei helfen musste,
die Gangway hinunterzusteigen.
Für
großartige, freudvolle Begrüßungsarien war da keine Zeit. Haderlein eilte dazu
und hievte Jahn gemeinsam mit Lagerfeld in den Fond des Landrovers. Als der
Hauptkommissar in Jahns bleiches, schweißnasses Gesicht sah, erschrak er. Der
sollte Gruppenführer einer Eliteeinheit der Bundeswehr gewesen sein? Der Typ
war ja völlig am Ende. Für Notfälle, falls er einmal unverhofft über Nacht in
einem Stau stecken blieb, hatte Haderlein immer eine Fleecedecke im Auto. In
diese Decke wickelten sie jetzt den frierenden Jahn, dann setzte sich Lagerfeld
neben ihn, und Haderlein schwang sich umgehend hinters Lenkrad und startete den
Freelander. Eigentlich hatte er die Anweisung, mit Lagerfeld und Jahn sofort in
die Bamberger Dienststelle zurückzufahren, aber in dem Zustand, in dem sich
Hans Günther Jahn befand, machte das keinen Sinn. Eingewickelt in die Decke war
er sofort eingeschlafen. Und nachdem ihm Lagerfeld von der Eigenmedikation
Jahns erzählt hatte, stand Haderleins Entschluss fest. Die Krankenhäuser in Hof
oder Bayreuth waren zwar näher, aber dort kannte er niemanden, dem er diese
abgefahrene Geschichte erzählen konnte.
Außerdem
brauchte er jemanden, der sich mit solchen Drogen einigermaßen auskannte,
besser noch, eigene Praxiserfahrung mit Rauschmitteln besaß.
»Wir
fahren zu Siebenstädter!«, rief er Lagerfeld zu, der HG umschlungen hielt, damit er in den Kurven nicht umkippte.
»Siebenstädter?
Warum denn zu dem?«, beschwerte sich Lagerfeld, der sich eigentlich auf ein
schnelles Wiedersehen mit Ute gefreut hatte.
»Weil
unser Professor der einzig Kompetente ist, der deinem Freund helfen kann«,
informierte ihn Haderlein, während er den Freelander durch das Tor der
Flugplatzumzäunung lenkte.
»Siebenstädter?
Kompetent in Sachen Partydrogen? Spinnst du?«
Doch
Haderlein hatte keine Zeit für lange Erklärungen und Begründungen, er musste
sich um den Verkehr auf der Autobahn kümmern. Am Kreuz Himmelkron bog der
Kriminalhauptkommissar ab und nahm die Autobahn nach Nürnberg. Auf der
hügeligen Strecke erzählte ihm Lagerfeld von HG s
jüngsten Erinnerungen. Er hatte kaum geendet, da bog der Landrover schon auf
den Parkplatz der Gerichtsmedizin Erlangen ein.
Haderlein
hatte sie telefonisch angekündigt, sodass Siebenstädter am Eingang auf sie
wartete. Sofort injizierte der Professor Jahn eine Spritze mit Aufputschmittel.
»Das wird
ihn ungefähr für zwei bis drei Stunden wach halten, dann wird er sehr lange und
sehr tief schlafen«, sagte Siebenstädter. »Und jetzt schaffen Sie diesen
Superhelden mal in mein Reich.« Haderlein und Lagerfeld halfen Jahn auf die
Füße, dann folgten alle drei Professor Siebenstädter in die Katakomben der
Erlanger Gerichtsmedizin.
Siebenstädter
hob den Blick vom Bildschirm seines Computers und nahm die Lesebrille ab.
Haderlein und Lagerfeld schauten ihn erwartungsvoll an, während HG Jahn noch immer mit der allumfassenden Müdigkeit
kämpfte.
»Es
handelt sich um ein Mittel, welches in Fachkreisen als ›Deep Blue‹ oder auch
›Blaukehlchen‹ bekannt ist«, eröffnete Siebenstädter seinen Vortrag. »Die Droge
begann ihre Karriere als K.-o.-Tropfen in Diskotheken, hat aber inzwischen den
zweifelhaften Ruf erlangt, intramuskulär verabreicht als eine Art
Wahrheitsserum zu wirken. Der Hauptbestandteil ist Flunitrazepam.«
»Fluni-
was?«, fragte Lagerfeld hilflos. Auch Haderlein hatte noch nie etwas von diesem
Mittel gehört, wenn er ehrlich war.
»Flunitrazepam.
Der Stoff dockt an den Benzodiazepinrezeptoren im Zentralnervensystem an und
verstärkt die dort vorhandenen Hemm-Mechanismen, an denen Neurotransmitter
beteiligt sind. Das heißt, dass die Reiz- und Informationsströme im Gehirn
massiv beeinflusst und gestört werden.«
Haderlein
verstand noch immer nur Bahnhof. »Aha«, meinte er sicherheitshalber.
»Flunitrazepam
beeinflusst im Grunde die Rezeptoren schon in wesentlich geringeren Dosen als
gleichartige Mittel«, fuhr Siebenstädter fort. »Der Effekt ist ungefähr zehn
Mal stärker als bei
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