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Der Colibri-Effekt

Der Colibri-Effekt

Titel: Der Colibri-Effekt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Vorndran
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junges Pärchen erhob, um zu gehen. Flugs glitt er von seinem
Barhocker und steuerte den kleinen Tisch an. Während er der jungen Dame in den
Mantel half und sich mit seiner spontanen Höflichkeit den Sitzplatz ergaunerte,
wurde er aufmerksam von einem ernsten Augenpaar beobachtet, das durch die
Scheiben der Küchentür jede seiner Bewegungen verfolgte. Der Mann, der zu den
Augen gehörte, drehte sich abrupt um, ging in den hinteren Teil der Küche zu
einer unscheinbaren Truhe und nahm etwas heraus.
    Als das
Pärchen lachend ging, nahm er Platz. Der Tisch war perfekt, von hier aus konnte
er den gesamten Raum beobachten.
    Als die
Bedienung an seinen Tisch kam, bestellte er einen trockenen Weißwein und eine
Portion Nordseemuscheln. Er musste gar nicht in die Karte schauen, um zu
wissen, dass hier die besten Muscheln von ganz Bergen serviert wurden. Während
er auf sein Essen wartete, sog er die Gerüche und Eindrücke des »Bryggen
Tracteursted« in sich auf wie ein Schwamm. Seine Erinnerung war kurz davor, zu
ihm zurückzukehren – aber eben nur kurz davor.
    Als die
Bedienung ihm die skjell brachte, vergaß er für ein
paar Momente die ihn quälenden Gedanken. Er bestellte noch einen Korb mit
Weißbrot und gesalzene Butter, dann machte er sich über die Mahlzeit her. Das
Vergnügen war allerdings nur von kurzer Dauer. Er aß nicht, nein, er fraß,
schlang alles in sich hinein. Ihm war gar nicht klar gewesen, dass er so
ausgehungert gewesen war.
    Bald
schon verlangte der Darm nach seinem Recht. Seine Augen suchten und entdeckten
das kleine Schild »Toilet« neben der Küchentür. Satt
erhob er sich und ging auf den Ort für kleine Königstiger.
    Während
er sich erleichterte, dachte er, dass, hätte er nicht unter dem
Gedächtnisverlust zu leiden, er im Moment ein äußerst zufriedener Mensch sein
könnte. Egal, was auch immer er für ein Leben führte. Er wusch sich die Hände
und freute sich auf weitere alkoholische Getränke. Vielleicht würde so ein
richtiger Suff den Stein der Erinnerung ja wieder ins Rollen bringen?
    Er stieß
die Tür zur Gaststube auf und blieb wie angewurzelt stehen. Der Raum war nur
noch halb voll und die Geräuschkulisse deutlich leiser. Aber das, was ihn
wirklich überraschte, war der Mann, der plötzlich an seinem Tisch saß. Er sah
aus wie die Forscher auf Fotos von historischen Polarexpeditionen.
Zerknittertes, faltiges Gesicht mit eingegrabener Lebenserfahrung.
Dunkelblonde, verfilzte Haare mit unübersehbarem Grau-Einschlag, die ihm
zerzaust bis auf die Schultern fielen. Die Augen des Mannes lagen tief in ihren
Höhlen und starrten ihn unverwandt an.
    Doch
seltsamerweise fühlte er sich von dieser Erscheinung nicht bedroht. Er atmete
tief durch und war wieder fähig, sich zu bewegen. Lächelnd schritt er langsam
auf den Mann an seinem Tisch zu. Der Seebär erwiderte sein Lächeln. Als er an
dem Tisch Platz nahm, schauten sich die beiden Männer in die Augen. Und
plötzlich war die Erinnerung wieder da. Groß und deutlich stand ihm ein Name
vor Augen.
    »Roald?
Roald Hagestad?«, platzte es aus ihm heraus.
    »Na, wie
geht’s, Skipper, du zäher Hund«, erwiderte sein Gegenüber in bestem Deutsch.
Skipper, er nannte ihn Skipper. Vor Aufregung wurde er blass. War Skipper sein
richtiger Name? Und selbst wenn nicht, dann musste Roald ihn doch wissen.
    »Roald,
kannst du mir sagen, wer ich bin?«, fragte er mit einer Intensität in der
Stimme, dass Roald unwillkürlich einige Zentimeter zurückwich. Es dauerte, bis
er die Sprache wiederfand.
    »Du hast
also tatsächlich dein Gedächtnis verloren«, stellte er nachdenklich fest. »Ich
hab damals ja gedacht, du würdest nur wieder einen deiner dummen Scherze machen.«
    »Was soll
das heißen, Roald? Was habe ich gemacht oder erzählt, verdammt noch mal? Du
musst mir alles sagen, Roald. Ich weiß nichts mehr über mich, nichts. Aber
meine Intuition hat mich hierhergeführt, und ich spüre, dass ich dir trauen
kann. Frag mich bitte nicht, warum.« Er ergriff Roalds Hand so fest, dass
dieser vor Schmerz das Gesicht verzog.
    »Ist ja
gut«, sagte Roald schließlich. »Aber zuerst erzählst du mir alles, woran du
dich erinnern kannst. – Meine Güte, hast du einen Griff.« Stöhnend rieb er
sich die Hand.
    »Das kann
aber länger dauern. Der Wirt könnte uns rausschmeißen.«
    Roald
lachte so laut auf, dass sich die verbliebenen Gäste inklusive Thekenpersonal
nach ihnen umdrehten. »Das ist gut, das ist wirklich gut, Skipper«, sagte er
dann

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