Der Colibri-Effekt
draußen.
»Herr
Lagerfeld, sind Sie da irgendwo?«, rief eine weibliche Person in seine Richtung,
und er erkannte die Umrisse einer Frau, die ihm winkte.
Sofort
lief er zur Tür, denn inzwischen war es ungemütlich kalt geworden. Am Eingang
stand eine reife, aber attraktive Frau. Ihr Alter war undefinierbar, doch
Lagerfeld schätzte sie auf irgendwo um die sechzig. Sie trug eine weite Jeans,
eine geblümte Bluse, hatte kurze blonde Haare und schaute ihn etwas zweifelnd
an, als hätte sie jemand anderes erwartet. Doch sie fasste sich sofort und
reichte ihm die Hand.
»Sie sind
also der Herr Lagerfeld«, sagte sie mit glockenheller Stimme. »Ich bin die
Helga. Der Herr Baron hat mich darüber informiert, dass Sie heute Abend unser
Gast sein werden.«
Ȁh, ja,
das stimmt«, bemerkte Lagerfeld und lächelte breit. Seine Hand schmerzte schon
von Helgas kräftigem Händedruck. Die Lady hat einen ganz schönen Griff, dachte
er. Als er sich die Dame etwas genauer besah, hatte er einen Moment lang das
Gefühl, sie schon einmal gesehen zu haben, aber da musste er sich wohl
täuschen. Auch hatte er nicht vor, sich mit dem Spruch »Kennen wir uns nicht
von irgendwoher?« alle potenziellen Sympathien zu verscherzen. In diesem Fall
würde dieses erste Gespräch bestimmt und sofort in eine katastrophale Richtung
laufen. Also würde er erst einmal möglichst unverfänglichen Small Talk machen.
Doch auch dieses Vorhaben bewahrte Bernd Schmitt nicht davor, mit Anlauf in den
erstbesten Fettnapf zu latschen.
»Was, äh,
gibt’s denn heute beim Herrn Baron, Frau Helga? Bestimmt die arma Doodn fo
saaner ledzden Jachdgesellschafd, odder? Haha!« Lagerfeld lachte lauthals über
seinen eigenen Witz und die Haushälterin an.
Diese
lächelte betont förmlich und ganz und gar nicht amüsiert zurück und überreichte
Lagerfeld, statt ihm eine Antwort zu geben, einen kleinen Stapel säuberlich
zusammengelegter Kleidungsstücke.
»Nun,
bevor wir zum Essen gleich welcher Herkunft übergehen, Herr Kommissar, bietet
sich der Herr Baron an, Ihnen aus Ihrer momentanen textilen Unpässlichkeit
herauszuhelfen. Sie können sich in der Kammer dort drüben umkleiden.« Ihr
frisch frisierter Bubikopf machte eine kaum merkliche Bewegung in Richtung
einer alten Tür, die unter einer Treppe halb offen stand, während ihr Lächeln
indifferent blieb.
Lagerfeld
hatte die Botschaft klar und deutlich vernommen. Obwohl die Worte formal
freundlich schienen, versteckte sich dahinter bei Weitem keine Bitte, sondern
ein Befehl. Wenn er in diesem adligen Etablissement also etwas für sein
körperliches Wohl tun wollte, musste er sich der Kleiderordnung fügen –
aber nicht ohne ein Zeichen seines aufbegehrenden männlichen Freiheitswillens.
Schließlich befand er sich aus seiner Sicht gerade in einer emanzipatorischen
Beziehungsphase.
»Sehr
wohl, Frau Baronin!«, rief er pseudoeloquent und schlug akkurat die Hacken
zusammen. »Herr von und zu Lagerfeld wird sich dem Anlasse entsprechend
dekorieren. Mit Ihrer Erlaubnis, Frau Baroness, ziehe ich mich dann zurück. Und
übermitteln Sie dem erschossenen Abendmahl schon mal meine ergebensten Grüße.«
Er salutierte und verschwand gemessenen Schrittes zu Umzugszwecken in seine
Kemenate.
Helga
lächelte versteinert, bis sich die Tür hinter Lagerfeld schloss, dann
verwandelte sich ihr Gesicht in eine kalte, teilnahmslose Maske. Regungslos
wartete sie noch einen kurzen Moment ab und beobachtete die geschlossene Tür,
dann drehte sie sich auf dem Absatz um und ging in Richtung Küche davon.
Das
Restaurant war zum Bersten voll und alle Plätze besetzt. Es war früher Abend,
die Zeit, in welcher der gemeine Norweger sein Abendessen einzunehmen pflegt.
Seine Muscheln mussten also noch warten. Er ging zum langen Tresen, setzte sich
auf einen der zwei Barhocker, die gerade frei geworden waren, und schaute sich
um. Ihm war, als hätte er nach einem langen Schuljahr endlich wieder
Sommerferien und würde sich mit seinen Freunden an einem geheimen, nur ihnen
bekannten Platz treffen. In einer Höhle, in der sie sich vor dem Rest der Welt
verstecken konnten. Jeder verdammte Balken in dem Gastraum war ihm vertraut,
der unverwechselbare Geruch schien ihn zu umarmen.
Er saß
mit dem Rücken zur Theke, stützte seine Ellenbogen auf den Tresen hinter sich
und lächelte. Sein Instinkt hatte ihn hierhergeführt, in sein Wohnzimmer. Aus
dem Augenwinkel sah er, wie sich am hintersten Tisch an der Wand aus massiven
Holzbalken ein
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