Der Consul
wahrzunehmen. Um mich abzulenken, las ich einen Roman weiter, der mir nicht gefiel, aber mich trotzdem fesselte, Käsebier erobert den Kurfürstendamm. Den Rest des Wochenendes vertrödelte ich mit Lesen und Schlafen.
Am Montag, es war der 14. November, setzte ich mich nach dem Frühstück an das Steuer des Horch und fuhr auf die Hauptverkehrsstraße nach Potsdam und Wittenberg. Auf den Beifahrersitz hatte ich mir den Ansporn-Autoatlas gelegt. Kurz vor Wittenberg passierte ich eine Kolonne Reichswehr mit gepanzerten Lastkraftwagen. Einige zogen leichte Feldgeschütze hinter sich her. Ich schalt mich, weil ich keine Zeitung gekauft hatte. Was die Zeitungen von gestern berichteten, konnte allerdings schon heute kalter Kaffee sein.
Ich fuhr schnell, der Achtzylinder schnurrte wie ein Uhrwerk. Ich bremste kaum, als ich Bitterfeld erreichte. Die Straße wurde holperig. Ich fuhr in eine Kurve. Dann sah ich Leute und Gegenstände auf der Straße und stieg auf die Bremse. Das Heck brach nach rechts aus, ich ließ die Bremse stottern und riss das Lenkrad nach rechts, dann geradeaus. Der Horch kam in Fahrtrichtung zum Stehen, mein Herz schlug schnell. Die Männer trugen Uniformen des RFB, wie der Rotfrontkämpferbund kurz hieß. Sie waren damit beschäftigt, eine Barrikade zu bauen.
Zwei Uniformierte kamen auf mich zu, sie trugen Karabiner über der Schulter. Einer hatte zwei Stielhandgranaten in den Gürtel gesteckt. Der kam auf die Fahrerseite und sagte: »Kontrolle. Weisen Sie sich aus!« Er trug den Riemen seines Käppis stramm unter dem Kinn. Ich zögerte, dann gab ich ihm meinen Dienstausweis, den ich in der Innentasche meines Jacketts fand. Er schaute drauf und sagte ruhig: »Aha, das ist ja nett, ein Greifer. Aussteigen.« Der zweite RFB-Mann fingerte an seinem Karabiner. Ich öffnete die Wagentür und stieg langsam aus. Der RFB-Mann ging um das Auto herum und schaute neugierig hinein. Er öffnete den Kofferraum, nahm meine Reisetasche und schloss ihn wieder. Dann stand er hinter mir. Der RFB-Mann mit den Handgranaten sagte: »Gehen wir.« Ich folgte ihm. Sein Kollege hatte den Karabiner in der einen und meine Tasche in der anderen Hand, er bewachte mich von der Seite. Sie brachten mich in den Keller eines Hauses neben der Barrikade, die die Männer aufschichteten. Sie sperrten mich in einen Kohlenkeller, ohne ein Wort zu sagen.
Als sie die Tür von außen schlossen, wurde es finster in dem Raum. Ich wartete, bis meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Feine Lichtstrahlen fielen durch Ritzen in der Abdeckung des Schachts, durch den die Kohle von der Straße in den Keller geschüttet wurde. Ich überlegte, ob ich zur Luke hinaufklettern konnte. Ich maß die Höhe mit den Augen, stieg auf die Kohlen, tastete an der Wand. Kein Mauervorsprung, nichts, was mir beim Klettern helfen würde. Ich lauschte nach draußen, hörte aber nichts.
Es war seltsam, ich spürte keine Angst. Es schien mir fast selbstverständlich, dass Kämpfer einer Bürgerkriegsarmee mich mitten auf der Straße gefangennahmen. Dann fiel draußen ein Schuss, ich hörte einen Schrei. Es war wieder still. Nun meldete sich die Angst. Ich stieß an eine Kiste und setzte mich auf sie. Ich musste lange warten.
Dann näherten sich Schritte. Ein Schlüssel wurde im Schloss umgedreht. Die Tür quietschte leicht, als sie geöffnet wurde. Ein RFB-Mann stand in der Tür. »Mitkommen.« Er winkte mich in den Gang. In der rechten Hand trug er das Gewehr, mit der linken schob er mich die Treppe hoch. Er brachte mich über einen Flur in eine Wohnstube. Er schloss die Tür hinter uns und stellte sich davor, den Kolben auf dem fleckigen roten Teppich. Auf dem Sofa saß ein Mann, er trug ebenfalls die Uniform des RFB. Er las etwas auf einem Blatt und fluchte. Er erkannte mich sofort, als er aufblickte. Ein Lachen ging über sein knochiges Gesicht. »Schau an, der Herr Unteroffizier. Hast ganz schön zugelegt, Stefan.«
»Und Walter Berg ist beim RFB«, sagte ich. »Erst für den Kaiser Engländer erschossen, heute Deutsche für Thälmann. Das nennt man eine Entwicklung.«
»Das ist ein Fortschritt«, sagte Walter. »Nicht der englische Soldat ist mein Feind, sondern der deutsche Kapitalist.« Es klang wie gestanzt, als hätte er es sich tausendmal vorgesagt.
»Ich finde das Erschießen überhaupt zum Kotzen«, sagte ich.
Der RFB-Mann an der Tür zündete sich eine riesige Zigarre an.
Die Tür flog auf, zwei RFB-Leute stürzten aufgeregt herein.
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