Der Countdown
schwere Zeit, doch Samara schöpfte aus Muhammads unerschütterlicher Liebe und Entschlossenheit wieder Mut, und sie brachte einen gesunden Jungen zur Welt.
Ahmed John.
Ihr kleines Wunder.
Ihr Sohn schaffte es, ein gebrochenes Herz allmählich zu kitten. Tag für Tag ging sie weiter durch ihr Leben, das sich im Irak zunehmend schwieriger gestaltete.
In den Jahren nach Ahmeds Geburt nahmen die Einschränkungen zu, weil man dem Land einen hohen Zoll auferlegte. Lebensnotwendige Medikamente wurden knapp und erreichten nicht die Menschen, deren Leben davon abhing.
Muhammad und Samara kümmerten sich nicht um Saddam, kümmerten sich nicht um Politik. Sie wollten das Leid beenden. Sie wollten den Kindern helfen, den Frauen und Männern, die in den überfüllten Krankenhäusern unnötigerweise starben. Jeden einzelnen Tag kämpften sie unter einem Regime, das fast die ganze Welt zu hassen schien.
Und jeden Tag fragte sich Samara, wie lange sie noch so weitermachen konnten.
Dann kam der Tag, an dem die Welt stillstand.
Der Tag, an dem die Flugzeuge in die Twin Towers in New York flogen. “Welch ein Irrsinn”, flüsterte Muhammad, als sie es in den Nachrichten sahen. “Nun werden noch mehr Menschen leiden, Samara.”
Ihre Niedergeschlagenheit verstärkte sich noch, als sie erfuhren, dass zwei Studienfreunde aus London, die jetzt als Broker gearbeitet hatten, in den Türmen ums Leben gekommen waren. In der folgenden Zeit fühlte sich das irakische Volk immer unbehaglicher, während die USA ihren Ärger auf Saddam konzentrierten.
Der Angriff entfachte einen weltweiten Sturm von Anschuldigungen gegen den Irak und Diskussionen über ihn.
Etwa achtzehn Monate nach den Anschlägen nahm ihre Furcht zu, als Militärmaschinen über die Stadt flogen. Vor den Passbehörden bildeten sich lange Schlangen, die Leute drängten sich darum, den Irak zu verlassen. Andere versteckten ihre Wertsachen und zogen aufs Land.
Mohammad und Samara wussten, dass die Mehrheit der armen Bevölkerung es sich nicht leisten konnte, Bagdad zu verlassen. Wenn sich die Dinge verschlimmerten, würden sie am meisten Hilfe brauchen.
Sie entschlossen sich, ebenfalls zu bleiben.
Überall in der Stadt errichteten irakische Soldaten schwer bewaffnete Checkpoints. Die Straßen wurden immer leerer, während die USA und ihre Verbündeten in Kuwait Truppen zusammenzogen und Washington Saddam ein Ultimatum nach dem anderen stellte.
Saddam ignorierte sie alle.
Die Bombardierungen begannen in der Nacht.
Shock and Awe
– Furcht und Schrecken –, so nannten die USA ihre Taktik.
Sirenen heulten, Leuchtfeuer erhellten den Himmel; und das entfernte Donnern nahm zu, als die Einschläge näher kamen und die Explosionen die Erde unter ihnen zum Beben brachten. Der Lärm wurde so laut, dass Samaras zusammengepresste Zähne klapperten und ihre Hände zitterten.
Während Muhammad sie umarmte, hielt sie Ahmed in den Armen und betete.
Nach den Bombardements hingen dunkle Wolken über der Hauptstadt.
Der Rauch und die Gerüche der brennenden, belagerten Stadt legten einen trüben, apokalyptischen Schleier über die Straßen.
Weite Gebiete von Bagdad waren zerstört.
Eines Morgens war Samara auf dem Weg zu einem völlig überfüllten Krankenhaus, als sie an einem Checkpoint vor einem zerstörten Gebäude warten musste. Sie erblickte ein winziges Objekt zwischen den Trümmern auf der Straße und sah genauer hin.
Ein kleiner menschlicher Fuß.
Es schien der Fuß eines kleinen Jungen zu sein, denn er steckte noch in einer Sandale mit einem kleinen blauen Fußball darauf.
Der Fuß hatte etwa die gleiche Schuhgröße wie der ihres Sohnes.
Samara schlug die Hand vor den Mund.
Was tun wir einander an?
Es sollte nicht der einzige Körperteil bleiben, den sie in den Straßen der Stadt liegen sah.
Binnen weniger Wochen hatten US-Streitkräfte Bagdad eingenommen, und in den folgenden Monaten und Jahren veränderte sich das Leben dort. Viele Menschen jubelten über den Untergang Saddams und das Versprechen auf einen besseren Irak. Doch Extremisten forderten die Irakis auf, die fremden Soldaten, die in ihre Heimat eingedrungen waren, zu töten.
Das Land hatte Schwierigkeiten, sich angesichts der nicht enden wollenden Kämpfe zu erholen und neu aufzubauen. Splittergruppen bekämpften Splittergruppen, Aufständische führten weiter ihren Krieg gegen die Besatzer. Eine nicht abreißen wollende Folge von Autobomben, Selbstmordattentaten, Scharfschützenfeuer,
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