Der Coup von Marseille
ein neues Leben zu beginnen. Diejenigen, die geblieben waren, wurden gardians genannt. Sie hüteten die einheimischen schwarzen Langhornrinder, die im Gegensatz zu normalen Rindern auf den Salzweiden der Camargue nicht nur überlebten, sondern sogar prachtvoll gediehen. Als Transportmittel benutzten die gar dians ein weiteres Tier, das in der Camargue heimisch war – die anmutigen Nachfahren der weißen Pferde, die vor vielen Jahrhunderten mit den Arabern ins Land gekommen waren.
Heute war die Camargue laut Reiseführer vor allem wegen ihrer Salzvorkommen bekannt und wurde deshalb bisweilen als ›Salzstreuer Frankreichs‹ bezeichnet. Und es war beileibe kein gewöhnliches Salz. Das fleur de sel – das Juwel der Salzgärten, das noch heute auf traditionelle Weise von einem Mann und seiner Holzschaufel gewonnen wurde – galt als Delikatesse erster Güte. Für Sam war Salz bisher kaum mehr als weißer Staub gewesen, und er schüttelte den Kopf, als er weiterlas und der Verfasser des prosaischen Textes angesichts der Wirkung einer Prise fleur de sel auf einem rohen Radieschen zunehmend in Ekstase geriet. Typisch, so etwas gibt es nur in Frankreich, dachte er.
Die Limousine hielt unterhalb der Terrasse und Sam nahm auf dem Beifahrersitz Platz; die Fahrt führte zuerst nach Arles und von dort aus weiter in die Camargue. Olivier war hocherfreut, seine Englischkenntnisse an einem wohl oder übel gebannten Zuhörer zu erproben, und schilderte, wie Reboul in den Besitz des Gestüts gekommen war.
Es hatte alles ganz harmlos damit begonnen, dass Reboul ein paar Bekannte zu einer Pokerrunde eingeladen hatte. Fortuna war ihm hold gewesen, und er hatte den Abend gerade für beendet erklärt und seinen Gewinn einkassiert, als einer seiner Mitstreiter, ein Marseiller Immobilienmakler namens Leconte, verkündete, er sei nicht bereit aufzuhören. Er hatte ständig verloren und sich ein wenig zu ausgiebig mit Rebouls Single Malt Whisky getröstet. Außerdem litt er an der unerschütterlichen Überzeugung, ein besserer Poker spieler als Reboul zu sein, und brannte darauf, es zu be weisen. Leconte hatte schon immer einen Hang zur Selbstüberschätzung und Prahlerei gehabt, den der Whisky noch verstärkte. Er schlug einen ›Pas de deux‹ vor, ein Zweipersonenspiel, nur er und Reboul, plus einen ›ernst zu nehmenden‹ Einsatz statt des Kleingelds, um das sie bisher gespielt hatten.
Reboul versuchte, Leconte die Idee auszureden: Es war schon spät, und alle mussten am nächsten Tag arbeiten. Doch Leconte beging den großen Fehler, Reboul zu unterstellen, er habe Angst, alles auf eine Karte zu setzen, und beharrte auf seiner Forderung weiterzumachen, sodass Reboul nachgab und es ihm überließ, den Einsatz zu bestimmen. Jeder der beiden Spieler setzte einen symbolischen Euro. Falls Leconte gewann, sollte er für seinen Euro Rebouls Jacht erhalten; gewann Reboul, würden ihm für denselben Preis Lecontes Liegenschaften in der Camargue zufallen.
»Ich war dabei, servierte die Getränke«, fuhr Olivier im Ton eines Augenzeugen historischer Zeitenwenden fort. »Es war hochdramatisch, wie im Film. Monsieur Reboul gewann, aber er wollte das Ganze als Scherz betrachten und gab Leconte den Euro zurück, damit er seine Schulden begleichen konnte. Aber Leconte weigerte sich, darauf einzugehen. Spielschulden seien Ehrenschulden, erklärte er. Et voilà .
»Wo ist Leconte jetzt?«
»Oh, er meinte, Marseille sei ihm zu provinziell geworden. Er hat seine Immobilienfirma verkauft und sich in Marokko niedergelassen.«
Inzwischen hatten sie die Autobahn verlassen, die Marseille und Arles verbindet, und fuhren auf einer der Nebenstraßen, die zur Küste führten, gen Süden. Die Landschaft hatte sich verändert; eine riesige und menschenleere Ebene. Ohne die störende Silhouette von Gebäuden, Bäumen oder Hügeln wirkte der Horizont mit einem Mal unermesslich. Bei bedecktem Himmel hätte die Kulisse vielleicht ziemlich trostlos gewirkt, fand Sam.
»Kommt Monsieur Reboul oft hierher?«
»Ein- oder zweimal im Frühjahr. Hin und wieder auch zu Weihnachten – und normalerweise dann, wenn eine der Stuten Nachwuchs bekommen hat. Er schaut sich seine Pferde gerne an, vor allem die Fohlen.«
Die Straße wurde schmaler, der Belag war rissig und geborsten. Sie schien direkt in den tiefsten Sumpf der Camargue zu führen, als der Wagen plötzlich scharf nach rechts abbog, ein Schild mit der Aufschrift PRIVÉ passierte und einen kiesbestreuten Weg
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