Der Coup von Marseille
Kutteln zu, und heute muss Kutteltag sein. Das provenzalische Rezept heißt Pieds et Paquets – Füße und Pakete. Serges Frau macht die besten in ganz Marseille. Habt ihr Hunger?«
Elena blickte Sam an und zuckte die Schultern. »Ich habe noch nie Kutteln gegessen. Wie schmecken die?«
»Grundsätzlich besteht das Gericht aus gemischten Inne reien vom Schaf. Einige Metzger bezeichnen es als organisches Fleisch. Bei diesem Rezept werden die Kutteln in kleine Vierecke geschnitten und zu paquets zusammengerollt, die gemeinsam mit magerem Speck, Petersilie, Knoblauch, Zwiebeln, Karotten, Olivenöl, Weißwein, gehackten Tomaten und – sehr wichtig – Schafsfüßen geschmort werden. Das Ganze muss natürlich mehrere Stunden leise vor sich hin köcheln.«
»Natürlich«, sagte Sam. » Wer würde schon in halbrohe Schafsfüße hineinbeißen!« Er wandte sich Elena zu. »Was meinst du? Klingt interessant, oder? Möchtest du probieren?«
Elena hatte Philippe mit wachsendem Staunen zugehört und hatte jetzt die Augen vor Schreck aufgerissen. »Weißt du was? Ich habe ausgiebig zu Mittag gegessen. Ich glaube, ich verzichte.«
9. Kapitel
B eton am Meer!«, lautete die unübersehbare Schlagzeile in La Provence . Es folgte ein äußerst kritischer Artikel über die Hochhäuser, die sich schon bald entlang der Küstenlinie von Marseille ziehen könnten.
Philippe hatte vielleicht ein wenig übertrieben, was vor allem auf den verbalen Schlagabtausch mit Patrimonio zurückzuführen war. Er hatte seine Leser zunächst an die zwei oder drei wohlbekannten Schandflecke erinnert, die seit den Fünfzigerjahren entstanden waren. Der Zahn der Zeit und nachlässige Instandhaltung hatten sie in elende, altersfleckige Betonruinen verwandelt, die Philippe als Pestbeulen im Antlitz von Marseille bezeichnete. Ist es das, lautete seine rhetorische Frage, womit die Bewohner dieser wundervollen Stadt leben möchten, wenn sie die Wahl hätten? Wollten sie mehr von der Sorte?
Es war nicht nur der Beton, der Philippes Auge beleidigte. Es war die Größe, und hier vor allem die Höhe der massiven Betonburgen, die seiner Ansicht nach die Skyline von Marseille verschandelten. Wie lange mochte es noch dauern, bis der ungehinderte Blick auf die Statue der Jungfrau Maria, die die Basilika Notre-Dame de la Garde krönte, durch einen gigantischen Büroturm versperrt wurde? Oder die historischen Gebäude im Alten Hafen mehrstöckigen Parkhäusern und Hotels weichen mussten? Wann würde das Maß voll sein und die Bewohner von Marseille laut und deutlich sagen, genug ist genug!
Der Dreh- und Angelpunkt des Artikels aber waren die Vor- und Nachteile einer Erschließung der Anse des Pêcheurs. Es galt zu wählen zwischen Hoch und Tief, zwischen Bauplänen, die darauf abzielten, den Touristen das Geld aus der Tasche zu ziehen, oder solchen, die Wohnraum für die Einheimischen schufen. Philippe hatte darauf geachtet, keine Namen zu nennen, doch das erübrigte sich. Auch so war sonnenklar, wem seine Sympathien galten.
Wie zu erwarten, löste Philippes Artikel ein sehr gemischtes Echo aus. Ein gut gelaunter Reboul rief Sam an, um ihm zu seinem geschickt eingeleiteten, äußerst werbewirksamen Propagandafeldzug zu gratulieren, und weigerte sich zu glauben, dass Sam nichts damit zu tun hatte.
Patrimonio hingegen war wütend und setzte sich unverzüglich mit dem Herausgeber der Zeitung in Verbindung, um einen Widerruf auf der Titelseite zu fordern. Als Antwort erhielt er eine kurze, aber geschliffene Lektion über die Meinungsfreiheit und über ein kostbares Gut ersten Ranges, die journalistische Integrität. Um ihm den Tag endgültig zu verderben, musste er auch noch den Anruf von einer eisigen Caroline Dumas entgegennehmen, die ihr tiefstes Missfallen zum Ausdruck brachte.
Lord Wapping geriet in Weißglut, als man ihm mit der Geduld, mit der man sonst Erstklässler in einen neuen Unterrichtsstoff einweist, den Artikel in die einzige Sprache übersetzt hatte, derer er annähernd mächtig war. Er zitierte Ray Prendergast zu sich, um Kriegsrat zu halten.
»Ray, das ist unannehmbar«, sagte er und kaute gereizt auf seiner Zigarre herum. »Völlig unannehmbar.« Er fegte die Zeitung mit dem Handrücken beiseite. »Was machen wir jetzt mit diesem kleinen Wichser?«
Die volkstümliche stilistische Einfärbung dieser Frage stimulierte seinen Geist, und er antwortete rasch. »Das Gleiche wie immer, Billy. Biete ihm Bares oder gebrochene Beine an. Verfehlt nie
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