Der Coup von Marseille
gekleidet in seinem schwarzen Anzug und dem weißen Hemd, wirkte ziemlich deplatziert vor dieser Kulisse.
Sie schoben sich mit Schwung durch den Perlenvorhang an der Eingangstür, wo sie sich dem abrupt einsetzenden Schweigen und den überraschten Blicken von rund einem halben Dutzend Männern ausgesetzt sahen, aber nur kurz, denn die Männer, die so wirkten, als wären sie genau hier zur Welt gekommen, wandten sich rasch wieder den Tages zeitungen und Dominosteinen zu. Das landesweite Rauchverbot in geschlossenen öffentlichen Räumen war zwar selbst in dieser Spelunke in Kraft getreten, doch die jahrzehntelang über schwappenden Nikotinwellen hatten den ursprünglichen Anstrich unkenntlich gemacht. Ansonsten aber war der Raum tadellos sauber und nicht ohne einen gewissen morbiden Charme. Einfache Holzstühle und Tische mit Marmorplatte, gezeichnet von den Narben vieler Jahre, waren an zwei Wänden aufgereiht; die dritte Wand wurde von einem langen, für ein Essen eingedeckten Tisch eingenommen, und die vierte Wand war der Bar und einem Barkeeper vorbehalten, der so aussah, als hätte er schon Napoleon eingeschenkt. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes, im hintersten Winkel, deutete eine stabile Schwingtür auf das Vorhandensein einer Küche hin.
Abgesehen von einem Fernseher mit Flachbildschirm über dem langen Esstisch, der keinen Ton von sich gab, beschränkte sich die Dekoration auf große gerahmte Fotografien, einige vom Alter verblichen, auf denen die Fußballmannschaft Olympique de Marseille im Wandel der Zeiten abgelichtet war. »Serge, der Besitzer der Bar, hat früher bei OM gekickt, bis ihm irgendein salaud bei einem Spiel gegen Paris Saint-Germain das Bein gebrochen hat«, erklärte Philippe. »Der Mann hinter der Theke ist sein Vater. Also, was wollt ihr trinken?«
Sie einigten sich auf eine Karaffe Rosé »supérieur«, die Philippe eigenhändig von der Bar holte, und Elena und Sam lehnten sich zurück, um zu erfahren, wie es zu dem Schlagabtausch mit Patrimonio gekommen war.
Philippe hatte auf ein Interview gehofft, aber die Zeichen standen bereits auf Sturm, als Patrimonio ihn Caroline Dumas als »Schreiberling bei unserem Lokalblatt« vorstellte. Bei der Er innerung an diese bodenlose Unverschämtheit verzog Philippe das Gesicht. »Er wollte sich vor ihr natürlich wichtig machen, keine Frage. Und ich weiß, ich sollte nichts auf das Gerede dieses aufgeblasenen alten Sesselfurzers geben. Trotzdem: Er tat so herablassend, dass es mir unter die Haut ging. Und es wurde noch schlimmer. Als ich ihm ein paar Fragen stellte, hat er mich regelrecht abgekanzelt und gesagt: »Hören Sie auf, mich mit sol chen Lappalien zu belästigen. Wenn Sie ein Interview wollen, rufen Sie meine Sekretärin an und vereinbaren mit ihr einen Termin.« Das war eine öffentliche Veranstaltung, zum Teufel noch mal. Er soll die Projekte vorstellen und hat keine Zeit, mit der Presse zu sprechen? Das ging mir wirklich gegen den Strich, und da ist mir etwas herausgerutscht, was besser ungesagt geblieben wäre.« Er hielt inne, um einen Schluck Wein zu nehmen. »Ich habe ihn gefragt, ob es in seinen Augen ethisch vertretbar sei, die Gastfreundschaft eines Ausschreibungsteilnehmers in Anspruch zu nehmen. Er meinte, er hätte keine Ahnung, wovon ich rede, und deshalb schlug ich vor, zu Lord Wapping zu gehen und sich von ihm auf die Sprünge helfen zu lassen; er könne meine Information gewiss bestätigen. Dann wurde es unangenehm, und ich zog es vor, das Weite zu suchen.«
»Wie viel hat Caroline Dumas von der Auseinandersetzung mitbekommen?«
»Nur den Anfang. Danach hat sie sich rargemacht.« Philippe leerte sein Glas und füllte es aus der Karaffe nach. »Aber es gab heute Abend wenigstens einen Lichtblick. Ich habe mit allen Ausschussmitgliedern gesprochen, und die meisten schienen von deinem Konzept sehr angetan zu sein – einer ließ sogar verlauten, dass er an einer Wohnung interessiert sei.« Die Bar hatte sich während Philippes Bericht gefüllt, die Neuankömmlinge nahmen ihre Plätze an dem langen Tisch an der Wand ein. Ein junges Mädchen trat aus der Küche im hinteren Teil des Raumes hervor und nahm die Bestellungen für die Getränke auf. Der alte Mann harrte auf seinem Posten hinter der Bar aus. Die Bedienung bei Tisch gehörte offenbar nicht zu seiner Arbeitsplatzbeschreibung.
»Ist heute Dienstag?« Philippe zog seine Armbanduhr zurate. »Dachte ich es mir doch. Einmal in der Woche bereitet Serges Frau
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