Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Courier des Czar

Der Courier des Czar

Titel: Der Courier des Czar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
Vom Netzwerk:
Gedanke reichte hin, ihr all’ die frühere Entschlossenheit zurück zu geben.
    »Ich werde der treue Hund des Blinden sein!« sagte sie sich.
    Als Iwan Ogareff sich entfernte, suchte Nadia sich im Dunkel zu verbergen. Sie wartete gelassen, bis die Menge sich vom Plateau verlief. Verlassen, wie ein elendes Geschöpf, das man nicht weiter zu fürchten hatte, war Michael Strogoff allein gelassen worden. Sie sah, wie er sich zu seiner Mutter hin tastete, sich über sie beugte, ihre Stirn voll heißer Liebe küßte und dann zu entfliehen suchte …
    Einige Minuten später verließen Beide Hand in Hand den Abhang des Hügels, folgten bis zum Ende der Stadt den Ufern des Tom und gelangten unbemerkt durch eine Oeffnung des Umfassungswalles.
    Nur die eine Straße nach Irkutsk verlief dort in östlicher Richtung. Nadia führte Michael Strogoff möglichst schnell mit sich fort, in der Besorgniß, es möchten die Plänkler des Emirs nach Schluß der thierischen Orgie, die sie jetzt feierten, wieder ausschwärmen und jeden Weg verlegen. Ihr galt es also, Jenen zuvor zu kommen, und Krasnojarsk, das übrigens 500 Werst von Tomsk entfernt liegt, eher als sie zu erreichen. Sich seitwärts von der Straße zu wagen, das hieß dem Ungewissen, Unbekannten, wahrscheinlich aber dem drohenden Verderben entgegen zu gehen.
    Wie Nadia die Anstrengungen der Nacht vom 16. zum 17. August zu ertragen vermochte; woher sie die Kräfte nahm, eine so lange Tagereise auszuhalten; wie ihre von dem anstrengenden Marsche der vorhergehenden Tage noch blutenden Füße sie bis dahin tragen konnten, – wohl ist das kaum begreiflich. Aber trotzdem erreichte sie am nächsten Tage, zwölf Stunden nach dem Aufbruch aus Tomsk, mit Michael Strogoff den Flecken Semilowskoë, – nach einem Wege von fünfzig Werft Länge.
    Michael Strogoff hatte noch keine Silbe gesprochen. Nicht Nadia hielt seine Hand, sondern er schloß sich die ganze Nacht über an die seiner Begleiterin; aber Dank dieser treuen Hand, die ihn, wenn auch leise zitternd leitete, war er gewohnten schnellen Schrittes gegangen.
    Semilowskoë erwies sich fast vollständig verlassen. Aus Furcht vor den Tartaren waren die Einwohner nach der Provinz Yeniselsk entflohen, und nur zwei oder drei Häuser bewohnt geblieben. Allen Reichthum der Stadt an nützlichen und werthvollen Gegenständen hatte man auf Karren fort geschafft.
    Dennoch konnte Nadia nicht umhin, hier einige Stunden Halt zu machen. Beide bedurften nothwendig der Nahrung und der Ruhe.
    Das junge Mädchen führte seinen Begleiter also nach dem Ende des Marktfleckens. Dort fand sich ein Haus mit offen stehender Thür. Sie traten ein. Neben dem in sibirischen Häusern gebräuchlichen ungeheuren Ofen stand mitten in der Stube eine einfache hölzerne Bank. Beide setzten sich dort nieder.
    Jetzt erst schaute Nadia ihrem geblendeten Gefährten in’s Gesicht, wie sie ihn wohl noch nie angesehen hatte. Aus ihrem Blicke sprach noch mehr als Dankbarkeit, mehr als Mitleid mit dem Unglück. Hätte nur Michael Strogoff sie sehen können, er hätte in ihrem verzweifelten Blick den Ausdruck der Ergebenheit ohne Grenzen, der innigsten Zärtlichkeit lesen müssen.
    Die von der hellglühenden Klinge gerötheten Lider bedeckten zur Hälfte die trockenen Augen des Blinden. Die Sklerotika (die weiße Augenhaut) erschien leicht gefaltet, wie verhornt, die Pupille auffallend vergrößert; die Iris (Regenbogenhaut) zeigte ein dunkleres Blau als vordem; Wimpern und Augenbrauen waren zum Theil verbrannt und versengt, – scheinbar aber hatte der so durchdringende Blick des jungen Mannes sich keineswegs verändert. Wenn er nicht sehen konnte, wenn seine Blindheit vollständig war, so rührte das von der totalen Zerstörung der Lichtempfindlichkeit der Netzhäute und Sehnerven durch die Hitze des glühenden Stahles her.
    Jetzt streckte Michael Strogoff seine hilflosen Hände aus.
    »Du bist hier, Nadia? fragte er.
    – Ja, ich bin bei Dir, erwiderte das junge Mädchen, ich werde Dich niemals verlassen, Michael.«
    Michael Strogoff erzitterte im Innern, als Nadia zum ersten Male seinen wahren Namen aussprach. Er begriff, daß seine Gefährtin Alles wußte, wer er sei und welche Bande ihn mit der alten Marfa verknüpften.
    »Nadia, fuhr er fort, wir werden uns trennen müssen.

    – Uns trennen? Und warum, Michael?
    – Ich will Dir kein Hinderniß Deiner Reise sein. Dein Vater erwartet Dich in Irkutsk. Du mußt zu ihm eilen.
    – Mein Vater würde mir fluchen, Michael,

Weitere Kostenlose Bücher