Der Cyberzombie
Lethe konnte in den Augen des Jungen die Erregung hinter der Erschöpfung sehen. Dann huschte ein Ausdruck des Argwohns über das junge Gesicht. »Was für einen magischen Ort?«
Lethe kam näher. »Es gibt einen Ort auf den Metaebenen, wo das Mana stark ist. Dort gibt es so viel Magie, daß sie deine ganze Seele ausfüllt.«
Billys Augen verengten sich. »Ich habe von diesem Ort gehört. Viele Leute sind dort gestorben. Welche Magie liegt im Tod? Ich meine, wenn man tot ist, wie kann man sich daran erfreuen?«
Lethe lachte. »Billy, ich kann dir eine Seite dieses Ortes zeigen, die nur wenige Leute je zu sehen bekommen.«
»Ach ja?«
»Sieh her.« Lethe formte ein Bild von Thayla in sei nen Gedanken. Er ließ die Erinnerung an ihr Lied einfließen, an die Vollkommenheit ihrer wunderbaren Magie. Er zeigte Billy die Kraft des weißen Lichts, das sie ausstrahlte.
Der kleine Junge hielt den Atem an, als er der Vision ansichtig wurde.
Nach einer Minute verblaßte die Vision.
Der Junge sah Lethe an. »Du warst schon an diesem Ort?«
Lethe nickte.
»Und es ist ein realer Ort, nicht einer, den du erfunden hast?«
Lethe nickte wiederum.
»Er ist wunderschön.«
»Ja, das ist er. Würdest du ihn gern sehen?«
Ein kleines Feuer schien hinter den müden Augen aufzuflackern. »Du könntest mich dorthin bringen?«
»Wir können nur zusammen dorthin. Du mußt mit mir den Weg zurückgehen, auf dem du gekommen bist.«
Der kleine Junge schaute nach oben, und seine Augen folgten der Silberschnur, die sich endlos nach oben erstreckte. Dann schaute er nach unten in die Richtung, die er eingeschlagen hatte, und plötzlich lag solche Sehnsucht im Blick des Jungen, daß Lethe sie beinahe als schmerzhaft empfand.
»Aber ich bin so müde«, flüsterte Billy mit leiser Kinderstimme.
»Das weiß ich Billy. Aber dieser Ort ist es wert. Ich verspreche es dir.«
Sie schwiegen einen Augenblick, dann sah Billy zu Lethe auf. »Also gut, wenn du es versprichst.«
Gemeinsam hangelten sie sich die silberne Schnur empor.
41
Ryan erwachte vom Zirpen der Grillen.
Einen langen Moment ließ er die Augen geschlossen und genoß das Gefühl sauberer Laken unter sich und den Geruch nach frischer Luft.
Sogar der dumpfe Schmerz in der Brust, am Gesicht und an den Händen war willkommen.
Ich lebe noch.
Er öffnete die Augen und sah silbernes Mondlicht durch die Jalousien fallen. Das Fenster war geöffnet, und die Jalousien bewegten sich kaum merklich in der leichten Brise.
Ryan fühlte sich gut. Wund, müde und verbraucht, aber nichtsdestoweniger gut.
Er lag in einem der kleinen Gästezimmer im Westflügel des Anwesens. Die Wände des Zimmers waren bis zu der Holzvertäfelung, die vom Boden etwa einen Meter in die Höhe reichte, magentafarben.
Ein nettes, einfaches Zimmer verglichen mit dem Luxus, der sonst überall im Haus vorherrschte. Das war Ryan gerade recht.
Er wandte den Kopf zu dem Nachttisch aus Eiche, der neben dem Bett stand; dort lag das Drachenherz auf einem mit echtem rotem Samt überzogenen Polster. Ryan konnte seine Macht spüren, den Pulsschlag, der ihn anzog wie das Licht die sprichwörtliche Motte.
Ryan streckte eine bandagierte Hand aus, ergriff das Herz unbeholfen und zog es an die Brust.
Mit einem einzigen Gedanken zapfte er seine Macht an. Sofort spürte er, wie sich der Heilungsvorgang in seinem Körper derart beschleunigte, daß er sich gleich darauf aufrichten konnte, ohne Schmerzen in der Brust zu verspüren.
Ryan schaute noch einmal auf den Nachttisch und sah dort einen Bogen eleganten Briefpapiers neben dem Samt liegen.Mit äußerster Behutsamkeit wickelte Ryan den Verband von seiner linken Hand ab. Obwohl die Haut vollkommen verheilt war, blieben doch kleine kreisförmige Narben zurück. Er betastete sein Gesicht. Es war ebenfalls bandagiert.
Er faltete den Briefbogen auseinander, und er erkannte die Handschrift sofort. Er ließ sich wieder auf das Kissen zurücksinken und las die flüssigen Zeilen.
Mein geliebter Ryan!
Ich hoffe, ich kann bei Dir sein, wenn Du aufwachst, aber falls nicht, sollst Du wissen, wie sehr ich Dich liebe, Ryan Mercury. Ich liebe Dich mehr, als ich sagen kann, mehr, als ich es jemals werde in Worte kleiden können.
Vor uns liegen immer noch düstere Tage, für uns beide, aber ich weiß, daß wir Erfolg haben werden. Du hast einen Auftrag, den Du ausführen mußt, das verstehe ich, aber auch wenn der Weg dunkel und mühsam erscheinen mag, eines sollst Du wissen: Es
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