Der Daleth-Effekt
befunden hatte, stand ein riesiger Feuerball im All, der sich rasch ausdehnte.
23.
Martha Hansen lebte wie in einem Traum – nur so konnte sie die Ereignisse überhaupt ertragen. Es hatte mit Oves Anruf um 4.17 Uhr morgens begonnen, und ihre Erinnerung an dieses Gespräch bestand hauptsächlich in der Stellung der beiden Leuchtzeiger der Uhr, während ihr seine Stimme im Ohr klang und sie zu begreifen versuchte, was er sagte.
4.17. diese Ziffern schienen irgend etwas Wichtiges zu bedeuten, weil sie sich ihr immer wieder ins Bewußtsein drängten. War das der Augenblick, in dem ihre Welt untergegangen war? Nein, sie lebte ja noch. Aber Nils war gerade auf einem seiner Flüge gewesen. Bis heute war er noch von jedem Flug wieder nach Hause …
Und das war der Punkt, an dem ihre Gedanken abglitten und eine neue Richtung nahmen – 4.17. Die Leute, die dann angerufen hatten oder zu Besuch gekommen waren – der Premierminister persönlich, die königliche Familie … Sie hatte versucht, sie alle freundlich zu behandeln, was ihr hoffentlich gelungen war. Wenn sie in der Schule überhaupt etwas gelernt hatte, dann die Regeln der Höflichkeit.
Aber selbst auf der Reise zum Mond war es ihr nicht gelungen, sich aus der Betäubung zu reißen. Sie war mit einem der neuen Mondschiffe geflogen, die man Raumbusse nannte. Es erinnerte sie sehr an ein gewöhnliches Düsenflugzeug, nur daß man überall viel mehr Platz hatte. Eine lange Kabine, Sesselreihen, belegte Brote und Drinks. Auch eine Stewardeß. Ein großes, aschblondes Mädchen, das ein paarmal zu ihr gekommen war und sich ein wenig mit ihr unterhalten hatte in dem leicht singenden schwedischen Tonfall, den die Männer so reizvoll finden. Aber auch sie war traurig gewesen, wie alle. Wann hatte sie zum letztenmal ein Lächeln gesehen?
Die Trauerfeier war ihr seltsam leer vorgekommen. Da gab es zwar ein flaggengeschmücktes Denkmal – dort draußen im Mondvakuum vor dem Fenster –, man hatte ein Jagdhorn geblasen und einige der Anwesenden wurden bei dem klagenden Ruf von ihrem Schmerz überwältigt. Aber niemand lag dort draußen begraben. Eine Explosion, hatte man ihr gesagt. Ein sofortiger, schmerzloser Tod. Und alles so weit weg.
Tage später hatte ihr Ove Rasmussen die Hintergründe erläutert. Es kam ihr alles so verrückt vor. Es war doch unmöglich, daß Menschen so etwas taten, nur um ein Geheimnis zu retten. Aber es stimmte. Und Nils war genau der Mann, so etwas zu tun. Selbstmord war es nicht gewesen; sie konnte sich nicht vorstellen, daß Nils Selbstmord beging. Aber es war ein Sieg für eine Sache, an die er glaubte, und wenn er dabei sterben mußte, hatte er das sicher als sekundär betrachtet und gar nicht weiter darüber nachgedacht. Mit seinem Tod hatte sie eine Seite ihres Mannes kennengelernt, die ihr nie bewußt geworden war.
»Ein Tropfen Sherry?« fragte Ulla und beugte sich über sie, ein Glas in der Hand. Die Trauerfeier war vorüber, und der Rückflug nach Kopenhagen stand bevor.
»Ja, bitte. Vielen Dank.«
Martha nippte an ihrem Glas und versuchte, sich auf die anderen Anwesenden zu konzentrieren. Sie wußte, daß sie in letzter Zeit sehr geistesabwesend war und daß man allgemein darauf Rücksicht nahm. Das mochte sie nicht, sie wollte nicht bemitleidet werden. Wieder nahm sie einen Schluck und sah sich um. Am gleichen Tisch saßen noch ein hoher Armeeoffizier und ein Herr vom Raumfahrtministerium, dessen Namen sie vergessen hatte.
»Es wird nicht noch einmal vorkommen«, sagte Ove ärgerlich. »Wir haben die anderen Länder als zivilisierte Partner behandelt – und nicht als nationalistische Ungeheuer, und wie blutrünstige Bestien sind sie habgierig über uns hergefallen. Eingeschmuggelte Waffen, bezahlte Verbrecher, Gewalt, Piraterie im All. Einfach unglaublich. Aber eine zweite Gelegenheit wird es nicht geben, das kann ich Ihnen versichern. Und wenn es doch dazu kommt, opfern wir nicht mehr das Schiff – sondern gehen rücksichtslos gegen die Angreifer vor. Sie wollen es ja nicht anders.«
»Hört, hört«, sagte der Offizier.
»Die neuen Daleth-Schiffe werden im Innenausbau künftig geteilt – die Mannschaft auf der einen Seite, die Passagiere auf der anderen; es wird nicht einmal eine gemeinsame Wand geben. Wir werden diese Tatsache allgemein bekanntmachen. Notfalls nehmen wir auch Soldaten an Bord – bewaffnet mit Pistolen, Gas …«
»Nun wollen wir aber nicht gleich über die Stränge schlagen, alter
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