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Der Dativ Ist dem Genitiv Sein Tod 1

Der Dativ Ist dem Genitiv Sein Tod 1

Titel: Der Dativ Ist dem Genitiv Sein Tod 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastian Sick
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man weiß, nehmen Versicherungen gerne Geld ein, tun sich aber mit dem Auszahlen schwer. Daher behalten sie bei Schadensersatzzahlungen wenigstens das
    »s« ein, das gibt ihnen das Gefühl, den
    Versicherungsnehmer am Ende doch noch ein bisschen übervorteilt zu haben. Ein kleiner Triumph in der Niederlage, kein Schaden ohne Schadenfreude.

    Ähnliches Kopfzerbrechen wie der Schadensersatz bereitet vielen Deutschen immer wieder ihre
    Einkommenssteuererklärung. Man hört und sieht alle Arten der Steuer nämlich auch immer mal ohne das Fugen-s, vorzugsweise in amtlichen Schreiben, aber auch in Zeitungen und Magazinen wie dem SPIEGEL.
    Einkommen[s]steuer, Vermögen[s]-steuer,
    Unternehmen[s]steuer – wer soll sich da noch auskennen? In ihrem Bestreben, alles zu vereinheitlichen, hat die behördliche Sprachregelung das Fugen-s vor jeglicher Form der -steuer für abgeschafft erklärt. Da es auch nicht Tabakssteuer und Hundessteuer heiße, könne es folgerichtig auch nur Grunderwerb- und
    Körperschaftsteuer heißen.

    Genauso wird mit Zusammensetzungen im
    Rechtswesen verfahren: Mit der Begründung, dass es schließlich nicht Mietsrecht und Tarifsrecht heiße, wird in einigen Amt[s]stuben bereits nur noch von
    »Vertragrecht« und »Wirtschaftrecht« gesprochen.

    Behördendeutsch ist von jeher bemüht, sich
    allgemeiner Verständlichkeit zu entziehen, und so ist die Einsparung des Fugenzeichens nur eine weitere
    Kürzungsmaßnahme auf dem Weg zur vollständigen Entfremdung von den Bürgern und ihrer Sprache.
    Dienstvorschriften, Versicherungsschreiben,
    Steuererklärungen – der Zusammenhang ist offenkundig: Es sind die Bürokraten, die das Fugen-s verschwinden lassen, eines nach dem anderen, so wie es die grauen Herren in Michael Endes »Momo« mit der Zeit taten. Der Schwund des Fugenzeichens breitet sich immer weiter aus, vom Praktikum[s]bericht über den Studium[s]beginn bis zur Diplom[s]feier, und macht aus
    Wohnungssuchenden Wohnungsuchende und aus
    Arbeitssuchenden Arbeitsuchende, wenn nicht gar Arbeit Suchende. Das braucht man allerdings nicht widerspruch[s]los hinzunehmen, so wie auch Momo sich den Diebstahl der Zeit nicht gefallen ließ. Denn sowohl im Schadensfall als auch beim Vertragsrecht und erst recht bei der Körperschaftssteuer hat das Fugen-s durchaus seine Berechtigung. Neben historischen Gründen zählt nämlich auch die Sprechbarkeit der Wörter.

    Dort, wo das Fugen-s unaussprechlich wäre, gehört es auch nicht hin. Es soll ja die Fuge zwischen zwei Wörtern glätten, nicht dieselbe zu einer Zungenhürde machen. Doch sprechen Sie einmal Verwaltunggebäude, Entwicklunghilfe und Kündigunggrund ohne »s« aus, und Sie werden feststellen, dass es nicht nur blöde klingt, sondern auch schwerer zu artikulieren ist. Das Fugen-s wurde auch deshalb eingefügt, um das Wort leichter über Zunge und Lippen zu bringen. Eine Aussprachehilfe, gewissermaßen.

    Wer das Gefühl hat, dass bei Wörtern wie Schadenersatz, Einkommensteuer, Diplomparty und Essenmarke die Scharniere quietschen, der soll getrost zum Ölkännchen greifen und ein Fugen-s hineinträufeln. So wie die Kehle regelmäßig geschmiert werden muss, so müssen auch manche Wortfugen geschmiert werden, damit die Sprache nicht ins Stocken gerät.
    Ein Versicherungsangestellter, der täglich
    »Schadenfälle« und »Schadennummern« bearbeitet, mutiert irgendwann zum Versicherung-Angestellten, und ein Unteroffizier, der nicht fähig ist, über den Tellerrand seiner »Essenmarken«-Vorschrift hinauszublicken, wird hoffentlich nie einen Offiziersgrad erlangen.

    Der Gebrauch des Fugen-s im Überblick Das Fugen-s steht im Allgemeinen bei Zusammensetzungen mit Wörtern auf -tum, -fing, -ion, -tät, -heit, -keit, -schaft, -
    sicht, -ung:
    Altertumsforschung, Frühlingserwachen, Kommunions-fest, Realitätsverlust, Einheitsfeier, Heiterkeitsanfall, Eigenschaftswort, Ansichtskarte, Erinnerungsvermögen bei Zusammensetzungen, deren erster Bestandteil auf -en endet (substantivierter Infinitiv) Essensreste, Lebensfreude, Leidensweg, Redensart, Schlafenszeit, Sehenswürdigkeit, Sterbenswörtchen, Wissenslücke und daher auch Schadensersatz, aber: Schadenfreude Das Fugen-s steht im Allgemeinen nicht bei
    Zusammensetzungen, deren erster Bestandteil weiblich ist und nicht auf -ion, -tät, -heit, -keit, -schaft, -sicht, -ung oder einen Zischlaut endet:
    Weltkugel, Nachtzug, Fruchtsaft, Kammerdiener, Lageplan, Redezeit, Musikzimmer,

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