Der Dativ Ist dem Genitiv Sein Tod 1
»verheißend« ergab glückverheißend, »allein« und »erziehend« ergab alleinerziehend. Diese Regel hat selten zu
Protestaktionen oder Unterschriftensammlungen geführt, denn sie war kurz, einfach und logisch. Selbst weniger talentierte Lehrer waren in der Lage, sie zu vermitteln, und zur Not konnten sie sich bei der Mathematik bedienen, denn die Regel ließ sich als immergültige Formel darstellen: x + Partizip = Adjektiv.
Dann traten die Rechtschreibreformer auf den Plan und fanden, diese Regel sei überhaupt nicht logisch und müsse dringend überarbeitet werden. Wenn man die Grundform »viel versprechen« in zwei Wörtern schreibt, so sei es doch nahe liegend, auch »viel versprechend« in zwei Wörtern zu schreiben. Dabei haben sie eine alte Bauernweisheit außer Acht gelassen, die da lautet: »Die Hühner gackern in Hof und Stall, drum hört man Hühnergackern überall.« Was will uns diese Weisheit sagen? Unter anderem dies: Nur weil zwei Wörter in der einen Konstellation auseinander geschrieben werden, muss das noch lange nicht heißen, dass man sie in einer anderen Konstellation nicht zusammenschreiben kann.
Andernfalls hörte man das »Hühner Gackern« überall, und dann wäre man wirklich reif für die Hühner freie –
pardon: hühnerfreie Insel.
Allen Bauernweisheiten zum Trotz trat die
Rechtschreibreform in Kraft und mit ihr jener Paragraph 36, der seither Tausende von Lehrern, Schülern, Lektoren und Journalisten in tiefste Verunsicherung und manchen Kolumnisten sogar in Verzweiflung gestürzt hat.
Die neuen amtlichen Regeln schreiben vor: Fügungen mit Partizip als zweitem Bestandteil werden getrennt geschrieben, wenn sie auch in der Grundform getrennt geschrieben werden. Länder, die Erdöl fördern, sind somit Erdöl fördernde Länder. Betriebe, die Milch verarbeiten, sind Milch verarbeitende Betriebe. Mütter, die allein erziehen, sind allein erziehend. Und Meldungen, die Besorgnis erregen, sind Besorgnis erregend.
Besorgnis erregend ist indessen auch die Vielzahl der Ausnahmen, bei denen dann doch die gute alte
Zusammenschreibung gilt. Dies ist vor allem immer dann der Fall, wenn der erste Bestandteil der Fügung für eine Wortgruppe steht. Als Beispiel wird dann gerne der Begriff »angsterfüllt« genannt. In der Grundform heißt es nämlich »von Angst erfüllt«, daher steht »angst-« für eine verkürzte Wortgruppe, folglich muss die Fügung zusammengeschrieben werden.
Auch »herzerweichend« ist so ein Fall – lautet die Grundform doch »das Herz erweichen«. Und
»rufschädigend«, denn es heißt ja nicht, jemand
»schädigt Ruf«, sondern jemand schädigt einen oder jemandes Ruf.
Das Asyl der Asyl suchenden Flüchtlinge hingegen geht nicht auf eine Wortgruppe zurück, daher sind sie nicht länger asylsuchend. Aber wie ist es mit den Arbeit suchenden Menschen? Die meisten von ihnen suchen vielleicht tatsächlich nur Arbeit, aber es ist doch ebenso gut möglich, dass ein paar von ihnen eine Arbeit suchen?
Hätte man es dann nicht mit einer Wortgruppe zu tun?
Mit einem eingesparten Artikel, so wie bei
»herzerweichend«? Dann hätten diese Menschen zwar noch kein Recht auf Arbeit, aber immerhin ein Recht darauf, »arbeitsuchend« genannt zu werden. Im
Arbeitsamt müssten zwei Schlangen eingerichtet werden.
Wer Arbeit sucht, der stelle sich links bei den Arbeit Suchenden an; und wer eine Arbeit sucht, der gehe nach rechts, zu den Arbeitsuchenden.
Die Korrekturhilfe von »Word« lässt das
Eigenschaftswort »arbeitsuchend« entgegen der neuen Regelung gelten. Dafür unterstreicht sie aber Wörter wie muskelbepackt, scherbenübersät und kapitalgedeckt, obwohl die nach wie vor richtig sind. Prompt findet man in der Presse Sätze wie diese: »Muskel bepackt und gut trainiert müssen sie sein, die Saalordner der HipHop-Veranstaltungen.« – »Der Sozialdemokrat fordert neben der gesetzlichen Rentenversicherung als zweite Säule eine Kapital gedeckte Rente.« – »Die Straße ist Scherben übersät, Kinder rennen barfuß durch die Splitter.« Oder auch: »Radfahrer bewarfen den Puma mit Steinen, bis er von der Blut überströmten Frau abließ. «
»Das haben wir nicht gewollt«, sagen die
Befürworter der Rechtschreibreform heute, »das ist das Ergebnis einer völligen Fehlinterpretation der Regeln!«
Tatsache ist: Das große Reformwerk, das sich als richtungweisend verstand, erwies sich in der Praxis oft als Irreführend. Und »Word« besorgt den Rest.
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