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Der Dativ Ist dem Genitiv Sein Tod 1

Der Dativ Ist dem Genitiv Sein Tod 1

Titel: Der Dativ Ist dem Genitiv Sein Tod 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastian Sick
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möglicherweise, womöglich
    Wie das alte Europa von einem Erdloch verschluckt wurde

    Die Wahl des Wortes des Jahres 2003 fiel auf das
    »alte Europa«. Doch wie so oft hat man zu früh abgestimmt. Das wahre Wort des Jahres kam erst kurz vor Weihnachten über uns.

    Rechtzeitig zur Weihnachtszeit hatten die
    Amerikaner im Irak einen Coup gelandet, der die herben Verluste der letzten Monate augenblicklich vergessen machte. In einer fensterlosen Kammer unter einer verwahrlosten Lehmhütte fanden sie — nach
    neunmonatiger Suche — den geflohenen und un-
    tergetauchten Diktator des Irak, Saddam »Pik-Ass« Hussein.

    Damit hat der von christlichem Eifer erfüllte
    Präsident der Vereinigten Staaten der Welt eine Neufassung der Weihnachtsgeschichte geliefert, die sich in etwa so liest:

    »Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von Präsident Bush ausging, dass alle Häuser im Lande durchsucht würden. Und diese Durchsuchung war die allergründlichste und geschah zu der Zeit, da Paul Bremer Statthalter in Babylonien war. Und jedermann ging, dass er den Gesuchten finde, ein jeder in seiner Stadt. Und sie fanden ihn unter einer Hütte aus Lehm, in einem Loch in der Erde versteckt. «

    Passend zur Jahreszeit und als wolle er den
    Amerikanern eine besondere Freude machen, hatte Saddam sich auch noch einen Weihnachtsmann-Look zugelegt: Mit seinem grauen Rauschebart hätte er gut und gerne als Knecht Ruprecht durchgehen können.
    Die Bilder des verhafteten Diktators und seiner letzten Zufluchtsstätte in Freiheit gingen um die Welt.
    Und ein Begriff brachte es innerhalb kürzester Zeit zu nie da gewesenem Ruhm: das Erdloch. Staunend saß man da und vernahm die Nachrichten, in denen es von
    Erdlöchern nur so wimmelte.

    Bis zu jenem denkwürdigen Adventssonntag, der uns die Meldung von Saddam Husseins Verhaftung
    bescherte, waren Erdlöcher in der deutschen
    Presselandschaft nur selten zu finden. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, denn für gewöhnlich findet man in Erdlöchern nur Wespen, Würmer und Spinnen,
    manchmal auch von vorausschauenden Eichhörnchen vergrabene Nüsse. Wer sich tief durchs Pressearchiv wühlt, der stößt gelegentlich auf Erdlöcher, in denen Knochen oder gar eine ganze Leiche verbuddelt waren:
    »Die junge Frau ... wurde erdrosselt, elendig in einem Erdloch verscharrt« (»Bild«-Zeitung). Ansonsten galten Erdlöcher bislang als unspektakulär und fristeten ein wenig beachtetes Dasein in der afrikanischen Wüste (»Als sie uns sahen, verschwanden die Erdmännchen blitzschnell im Erdloch«) und unter Rasenteppichen:
    »Doch plötzlich stolperte der Isländer über ein Erdloch, fiel hin« (»Bild«-Zeitung). Eingedenk der neuesten Erkenntnisse über Erdlöcher wird der Fußballspieler beim nächsten Sturz über einem solchen nachschauen, ob sich darin nicht ein international gesuchter Top-Terrorist verbirgt und er mal eben 25 Millionen Dollar nebenbei verdienen kann.

    Das »Erdloch« wurde zum Liebling der
    Berichterstatter. Mochten die Amerikaner Saddam gefunden haben; die Medien hatten ihr Erdloch: Das Ei des Kolumbus 2003! Es war aus keiner Meldung über den gefassten Despoten wegzudenken. Kaum jemand machte sich die Mühe, nach sprachlichen Alternativen zu graben. Nur selten las man vom »unterirdischen Versteck« oder von einer »Grube«, einem »Raum« oder einem »Bunker«.

    Die massenhafte Ausbreitung von Erdlöchern in
    Nachrichtentexten konnte bei sensiblen Lesern schnell zu einem gewissen Überdruss führen. Doch das nahm man gerne in Kauf, denn der »Erdloch«-Überdruss löste den noch quälenderen Überdruss an Wörtern wie
    »Reformstreit«, »Maut-Desaster«, »Selbstmordattentat«
    und »Küblböck« ab.

    Bereits im Juli desselben Jahres wurde ein 5i-jähriger Mann entdeckt, der angeblich zehn Jahre lang in einem
    »Erdloch« gehaust hatte. Allerdings nicht im Irak, sondern in Brandenburg. Er selbst gab zwar an, er habe in einer »Erdhöhle« gewohnt. Dies hinderte die Presse aber nicht, aus der Höhle ein Loch zu machen und das Wort millionenfach abzudrucken. Offenbar klingt
    »Erdloch« schauriger, gruseliger und ekelerregender als »
    Erdhöhle « oder »Grube«. Im Nachhinein betrachtet war dieser Fall eine Art journalistischer Testlauf für Saddam Hussein. Wobei das Brandenburger Erdloch schnell wieder in Vergessenheit geriet. Mit Saddam Husseins Erdloch hingegen ist dem deutschen Journalismus ein sprachlicher Geniestreich gelungen, der Bestand haben

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