Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod 2
mit der Präposition ›am‹ gebildet.« − »Nenn
mal ein Beispiel!«, bittet Holly.
»Alle sind am Jubeln, wenn Deutschland Europameister
wird. Mein Nachbar ist total am Verzweifeln, weil sein PC
schon wieder am Spinnen ist. Wenn andere schlafen, bin ich
am Arbeiten.« Holly nickt: »Stimmt, das kenne ich! ›Ich bin
am Arbeiten‹, das sagen manche Leute wirklich.« − »Und
wenn dich jemand fragt: ›Möchtest du noch ein Stück Ku-
chen?‹, dann kannst du − mit Rücksicht auf deine Hüften-
Verlaufsform − antworten: ›Nein danke, ich bin gerade am
Abnehmen.‹« − »Das wiederum habe ich noch nie gehört«,
behauptet Holly und lacht.
Ich nenne weitere Beispiele:»Statt ›Ich denke gerade nach‹
oder ›Ich überlege noch‹ hört man auch sehr oft ›Ich bin ge-
rade am Nachdenken‹ oder ›Ich bin noch am Überlegen‹.« −
»Aber ist das richtiges Deutsch?«, fragt Holly. »Wie gesagt,
es ist nicht Standard. Doch in weiten Teilen Deutschlands ist
es absolut üblich. Die Regel sieht vor: ›Ich telefoniere
gerade‹, und die Umgangssprache macht daraus: ›Ich bin ge-
rade am Telefonieren‹! Wenn der Chefin Rage gerät, raunen
sich die Kollegen zu: ›Der ist mal wieder voll am Durchdre-
hen! ‹ Und wenn’s so richtig Ärger gibt, dann ist ›die Kacke
am Dampfen‹. Letzteres funktioniert sogar ausschließlich in
der Verlaufsform. Den Ausdruck ›dann dampft die Kacke‹
gibt es nicht.«
Holly ist begeistert: »Das ist wirklich faszinierend! War-
um bringen sie einem das nicht im Deutschunterricht bei?
Da lernt man alle möglichen Regeln und Formen, aber dass
es diese Verlaufsformen gibt, das verheimlichen sie ein-
fach!« − »Lehrer sind angehalten, nur Hochdeutsch zu unter-
richten. Für Sonderformen der Umgangssprache ist im
Deutschunterricht normalerweise kein Platz. Obwohl man
ein paar Kenntnisse manchmal schon brauchen kann − bei
der Zeitungslektüre zum Beispiel. Gelegentlich findet man
die umgangssprachliche Verlaufsform nämlich selbst in
Überschriften. In der ›Frankfurter Allgemeinen Zeitung‹
konnte man lesen: ›Das Geschäftsmodell für den Smart ist
am Wanken‹. Und im ›Kölner Stadt-Anzeiger‹ stand un-
längst: ›Ölpreis weiter am Sinken‹. Da ist mancher Leser ver-
ständlicherweise ›am Kopf schütteln‹. In Düsseldorf und
Köln allerdings wird kaum jemand Anstoß daran genom-
men haben. Die Rheinländer benutzen die Verlaufsform
nämlich besonders gern und haben sie auf ihre Weise per-
fektioniert. Daher spricht man auch von der rheinischen
Verlaufsform.«
Holly kommt aus dem Staunen gar nicht mehr raus: »Die
rheinische Verlaufsform? Willst du sagen, das Rheinland
hat eine eigene continuous form?« ‒ »Genau! Das Rheinland
hat den Karneval und eine eigene Verlaufsform. Nehmen wir
mal den Satz ›Ich packe die Koffer‹. Das ist eine ganz nor-
male Aussage im Präsens. In der herkömmlichen Verlaufs-
form wird es zu »Ich bin am Kofferpacken«. In der rheini-
schen Verlaufsform wird es zu ›Ich bin die Koffer am
Packen‹. Und ein Satz wie ›Chantal föhnt sich die Haare‹
wird zu ›Dat Chantal ist sich die Haare am Föhnen‹. Das
Ganze gipfelt im ›rheinischen Rodeo‹.« − »Was, ein Rodeo
haben die auch?« − »Ja, da ist der Bauer die Kuh am Stall am
Schwanz am raus am Ziehen. Das ist das rheinische Rodeo.
Im benachbarten Ruhrgebiet sind diese Formen ähnlich po-
pulär, da weiß man zum Beispiel: »Wenn dat einmal am Lau-
fen fängt, hört dat nich mehr auf.« Dort hängt man übrigens
auch gern noch das Wörtchen ›dran‹ dran. Da heißt es dann:
›Na, wat bisse heut so am Machen dran?‹ Das ist dann aller-
dings schon eine Lektion für Fortgeschrittene.« Holly atmet
tief durch: »Wow! Das ist amazing! Ich frage mich, ob Mark
Twain das wohl gewusst hat.«
»Jetzt noch mal zur Übung«, sage ich. »Nehmen wir den
Satz ›Tim repariert den Motor‹. Der wird in standardsprach-
licher Verlaufsform zu ›Tim ist beim Reparieren des Mo-
tors‹. Und wie lautet nun die verschärfte rheinische Form?«
− »Moment, warte, ich komm drauf: Tim ist dem Motor am
Reparieren! Right?« − »Perfekt! Damit bist du bald jeder
Rheinländerin Konkurrenz am Machen!«
Die Place, die Gare, die Tour?
Frage eines Lesers: Nach einem Parisbesuch tauchten in
Bezug auf Plätze, Bahnhöfe und besondere Bauten, die im
Deutschen den männlichen Artikel verlangen, auf Franzö-
sisch
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