Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod - Folge 2: Folge 2 (German Edition)
Zeitungslektüre zum Beispiel. Gelegentlich findet man die umgangssprachliche Verlaufsform nämlich selbst in Überschriften. In der ›Frankfurter Allgemeinen Zeitung‹ konnte man lesen: ›Das Geschäftsmodell für den Smart ist am Wanken‹. Und im ›Kölner Stadt-Anzeiger‹ stand unlängst: ›Ölpreis weiter am Sinken‹. Da ist mancher Leser verständlicherweise ›am Kopfschütteln‹. In Düsseldorf und Köln allerdings wird kaum jemand Anstoß daran genommen haben. Die Rheinländer benutzen die Verlaufsform nämlich besonders gern und haben sie auf ihre Weise perfektioniert. Daher spricht man auch von der rheinischen Verlaufsform.«
Holly kommt aus dem Staunen gar nicht mehr raus: »Die rheinische Verlaufsform? Willst du sagen, das Rheinland hat eine eigene continuous form ?« – »Genau! Das Rheinland hat den Karneval und eine eigene Verlaufsform. Nehmen wir mal den Satz ›Ich packe die Koffer‹. Das ist eine ganz normale Aussage im Präsens. In der herkömmlichen Verlaufsform wird es zu ›Ich bin am Kofferpacken‹. In der rheinischen Verlaufsform wird es zu ›Ich bin die Koffer am Packen‹. Und ein Satz wie ›Chantal föhnt sich die Haare‹ wird zu ›Dat Chantal ist sich die Haare am Föhnen‹. Das Ganze gipfelt im ›rheinischen Rodeo‹.« – »Was, ein Rodeo haben die auch?« – »Ja, da ist der Bauer die Kuh am Stall am Schwanz am raus am Ziehen. Das ist das rheinische Rodeo. Im benachbarten Ruhrgebiet sind diese Formen ähnlich populär, da weiß man zum Beispiel: ›Wenn dat einmal am Laufen fängt, hört dat nich mehr auf.‹ Dort hängt man übrigens auch gern noch das Wörtchen ›dran‹ dran. Da heißt es dann: ›Na, wat bisse heut so am Machen dran?‹ Das ist dann allerdings schon eine Lektion für Fortgeschrittene.« Holly atmet tief durch: »Wow! Das ist amazing ! Ich frage mich, ob Mark Twain das wohl gewusst hat.«
»Jetzt noch mal zur Übung«, sage ich. »Nehmen wir den Satz ›Tim repariert den Motor‹. Der wird in standardsprachlicher Verlaufsform zu ›Tim ist beim Reparieren des Motors‹. Und wie lautet nun die verschärfte rheinische Form?« – »Moment, warte, ich komm drauf: Tim ist den Motor am Reparieren! Right?« – »Perfekt! Damit bist du bald jeder Rheinländerin Konkurrenz am Machen!«
Die Place, die Gare, die Tour?
Frage eines Lesers: Nach einem Parisbesuch tauchten in Bezug auf Plätze, Bahnhöfe und besondere Bauten, die im Deutschen den männlichen Artikel verlangen, auf Französisch jedoch weiblich sind, folgende Fragen auf: Sagt man die oder der Place de l’Étoile? Sagt man die oder der Gare de l’Est? Sagt man die oder der Tour Montparnasse? Gibt es dafür eine Regel?
Antwort des Zwiebelfischs: Die Place oder der Place – darüber lässt sich trefflich streiten! Als Romanist habe ich selbst lange Zeit dem französischen Geschlecht Vorrang erteilt und Sätze gesagt wie »Wir trafen uns auf der Place Vendôme« und »Wir trennten uns an der Gare du Nord«. Inzwischen aber bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass in deutschen Sätzen auch nach deutscher Grammatik verfahren werden sollte. Schließlich ist nicht jeder des Französischen mächtig. Und müsste man dann nicht auch bei jedem anderen Gebäude dieser Welt nach dem Geschlecht forschen, das ihm die jeweilige Landessprache zuweist?
Im Englischen sind Gebäude grundsätzlich sächlich, deswegen heißt es im Deutschen aber nicht »das Tower« oder »das Royal-Albert-Hall«. Ebenso wenig »das London-Bridge«, »das Piccadilly Circus« oder »das Victoria-Station«. Ganz selbstverständlich wählen wir hier den Artikel des entsprechenden deutschen Wortes: der Tower (der Turm), die Royal-Albert-Hall (die Halle), die London-Bridge (die Brücke).
Da mir bislang kein überzeugender Grund dafür eingefallen ist, weshalb man französische Gebäude im Deutschen anders behandeln sollte als englische, plädiere ich dafür, sich auch bei »Place«, »Gare« und »Tour« nach dem Geschlecht der deutschen Entsprechung zu richten. Also »der Place de l’Étoile«, »der Gare de l’Est« und »der Tour Montparnasse«. Wer übrigens in Paris die U-Bahn benutzt, der fährt mit »der Metro« – nicht mit »dem Metro«, auch wenn es auf Französisch »le métro« heißt.
Neben dem Genus kann mitunter auch der Numerus Probleme bereiten. Manche Namenwörter stehen nämlich im Plural, so wie die berühmteste aller Pariser Prachtstraßen, die Champs-Élysées. In der populären verkürzten Form wird
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