Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod - Folge 3
Schwur.
Streng genommen ist die Verwendung von »Bevölkerung« als Ersatzwort für »Volk« also grammatisch ungenau. Dennoch hat das Wort »Bevölkerung« die Bedeutung »Volk« übernommen. Derartige Wechsel kommen gelegentlich vor, man denke nur an die »Studierenden«, die immer wieder als Synonym für »Studenten« herhalten müssen, obwohl sie aus einem Partizip hervorgegangen und im Grunde nicht mehr mit Studenten gemein haben als Lauschende mit Lauschern und Trinkende mit Trinkern.
»Bevölkerung« wird doppelt so oft verwendet wie »Volk«, und zwar hauptsächlich in Texten mit aktuellem Bezug, während das Wort »Volk« oft ein Indikator für einen älteren Kontext ist. Sucht man im Internet nach dem »französischen Volk«, so findet man hauptsächlich Stellen mit historischem Bezug, zum Beispiel Texte über die Französische Revolution. Wenn es aber um die heutigen Franzosen geht, dominiert der Ausdruck »französische Bevölkerung«. Früher erhob sich das Volk, heute protestiert die Bevölkerung.
Dass das Wort »Bevölkerung« kein vollwertiges Volks-Synonym, sondern ein sprachlicher Notbehelf ist, zeigt sich an seiner begrenzten Verwendbarkeit. In Zusammensetzungen nämlich vermochte es das Wort »Volk« nicht zu ersetzen. Oder haben Sie jemals an einem Bevölkerungs-begehren teilgenommen, ein Bevölkerungsfest gefeiert oder einen Bevölkerungswagen gefahren?
In den Ohren der Jüngeren mag das Wort »Volk« altmodisch klingen, doch es ruft bei ihnen keine unangenehmen Assoziationen wach. Die Vorbehalte der Kriegs- und Nachkriegsgeneration sind veraltet und halten einer sprachkri-tischen Prüfung nicht mehr stand. Im Unterschied zum »Negerkuss« und zum »Mohrenkopf« steht das Wort »Volk« nicht auf der Liste der unzumutbaren Wörter. Stattdessen steht es zum Beispiel im Grundgesetz.
»Volk« ist ein stärkeres Wort als »Bevölkerung« – klanglich wie inhaltlich. Es hat mehr Gewicht und Wirkung. Einen eindrucksvollen Beleg liefert die jüngste deutsche Geschichte: Der Ruf der Demonstranten, die im Jahre 1989 auf die Straßen gingen, um gegen das System der DDR zu protestieren, lautete: »Wir sind das Volk!« Es ist fraglich, ob die Revolution in Ostdeutschland genauso eindrucksvoll verlaufen wäre, wenn die Demonstranten gerufen hätten: »Wir sind die Bevölkerung!«
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Von Knäppchen, Knäuschen und Knörzchen
Abschied ist ein scharfes Schwert. Und Abschnitt ist ein hartes Brot. Der Rest ist Scherzl – oder Knust – oder Ränftl, oder wie man sonst noch zum Brotkanten sagt. Der »Zwiebelfisch« hat Brotreste gesammelt. Nun hat er so viel, dass er damit drei Jahre lang Enten füttern kann.
Brot ist eines der ältesten Kulturgüter überhaupt. Schon die alten Ägypter buken Brot und entdeckten das Geheimnis des Sauerteigs. Seitdem ist Brot zum Symbol für Speise schlechthin geworden. In der Bibel wird Brot als Gottesgeschenk beschrieben (himmlisches Manna), und seit dem letzten Abendmahl, das Jesus mit seinen Jüngern einnahm, steht Brot für den Leib Christi.
So ist es nicht verwunderlich, dass das Brot auch in unserer Sprache einen besonderen Platz einnimmt. Es kommt zum Beispiel in Dutzenden von Redewendungen vor, man denke nur an »Trocken Brot macht Wangen rot«, »Wes Brot ich ess, des Lied ich sing« und »Wer nie sein Brot im Bette aß, weiß nicht, wie Krümel piken«. Doch so richtig interessant wird das Brot für den Sprachforscher erst nach dem Verzehr, wenn von ihm nichts weiter übrig ist als ein – zumeist zähes oder hartes – Randstück (vom Brot natürlich, nicht vom Forscher). Dieses Randstück hat nämlich einen besonderen Namen. Einen Namen? Was red ich da! Dutzende Namen hat es!
Bereits im letzten Jahr begab ich mich auf die Suche nach regionalen Bezeichnungen für den Apfelrest und rief die Leser meiner »Zwiebelfisch«-Kolumne auf, mir ihren Ausdruck für den Apfelrest zu schicken. Mehr als 50 verschiedene Bezeichnungen kamen dabei zusammen 14 . Einige Leser schickten unaufgefordert auch gleich das Wort für den Brotrest mit. Da ahnte ich, dass die Vielfalt der Brotrest-Wörter mindestens genauso groß sein müsse wie die der Apfelrest-Wörter.
Wenige Recherchen genügten, um festzustellen, dass der Brotkanten für Wortsammler ein gefundenes Fressen ist. In diversen Internet-Foren wird aufs Amüsanteste darüber diskutiert. Schulklassen haben sich im Rahmen von Projekten auf die Suche nach Brotrest-Wörtern begeben.
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