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Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod - Folge 3

Titel: Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod - Folge 3 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastian Sick
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Fernsehen bekennt. Es geht aber auch weniger aufwendig, indem man nämlich einfach um Entschuldigung bittet.
    In früheren Zeiten sagte man »Ich bitte um Entschuldigung« oder »Bitte entschuldigen Sie mich«. Selbst das kurze Austreten zur Toilette wurde mit einem »Wenn Sie mich für einen kleinen Moment entschuldigen würden« zur formschönen Angelegenheit. Heute macht man es sich leichter. Inzwischen wird das Verb »entschuldigen« nämlich meistens reflexiv gebraucht: Ich entschuldige mich, du entschuldigst dich, er entschuldigt sich, wir entschuldigen uns usw.
     
    Statt auf den Schuldfreispruch eines anderen zu warten, sprechen wir uns einfach selbst von der Schuld frei. Unangemeldet in eine Sitzung geplatzt? Kein Problem! Da sagtman einfach: »Ich entschuldige mich für die Störung!« Die anderen, die man aus dem Gespräch gerissen hat, werden gar nicht erst gefragt. Man entschuldigt sich kurzerhand selbst, und damit ist die Sache vom Tisch.
    Das kommt aber nicht immer gut an. Nicht jeder begegnet uns mit Verständnis, wenn wir uns entschuldigen, denn mitunter steht dem Verständnis ein Missverständnis im Wege. Ich kann mich noch sehr lebhaft an einen Dialog zwischen einem Studenten und einem Professor erinnern, der sich während eines Geschichtsseminars zutrug. Der Student, auf dessen Referat wir alle warteten, hatte sich um 20 Minuten verspätet und sagte: »Tut mir leid, dass Sie warten mussten, ich entschuldige mich!«, worauf der Professor erwiderte: »Wie praktisch, dann brauche ich es ja nicht mehr zu tun!« – »Was denn?«, fragte der Student verwirrt. »Nun, Sie entschuldigen!«, antwortete der Professor und fuhr erklärend fort: »Ich hätte Sie ja ohne weiteres entschuldigt, und Ihre Kommilitonen hätten es sicherlich auch, aber Sie sind uns zuvorgekommen und haben es bereits selbst getan.« – »Was habe ich getan?«, fragte der Student. »Na, sich entschuldigt!«, entgegnete der Professor seelen-ruhig. Der Student verstand nun gar nichts mehr: »Äh, ja, und ... sollte ich das denn nicht? Ich habe Sie doch immerhin 20 Minuten warten lassen!« – »Eben«, schloss der Professor, »daher wäre es an uns gewesen, Sie zu entschuldigen, aber das hat sich nun erledigt.«
    Heute ist der reflexive Gebrauch des Verbs »entschuldigen« Standard. Es ist also nicht falsch, »ich entschuldige mich« zu sagen. Denn nicht nur die Schreibweise von Wörtern ändert sich, auch die Bedeutung kann sich ändern. Laut Duden ist »sich entschuldigen« gleichbedeutend mit »um Nachsicht, Verständnis, Verzeihung bitten«, und man kann sich sowohl für etwas als auch wegen etwas bei jemandem entschuldigen. Manchem erscheint es dennoch ein wenigseltsam; und das kann man verstehen, wenn man sich die ursprüngliche Bedeutung des Wortes »entschuldigen« bewusst macht: »Entschuldigung« stand für die Aufhebung von Schuld. Sie konnte vom Schuld-Verursacher erbeten oder erfleht, vom Schuld-Opfer gewährt oder verweigert werden. Im Laufe der Sprachgeschichte hat die »Entschuldigung« aber noch andere Bedeutungen angenommen. So ist »Entschuldigung« in bestimmten Zusammenhängen gleichbedeutend mit »Begründung« und »Rechtfertigung«:
     
    »Was können Sie zu Ihrer Entschuldigung vorbringen?«
    »Das kann man als Entschuldigung gelten lassen.«
     
    Nicht zu vergessen natürlich die Entschuldigung, die Eltern für ihre Kinder schreiben, wenn diese mit Fieber im Bett liegen und nicht am Unterricht teilnehmen können. Gelegentlich schreiben Schüler auch für sich selbst Entschuldigungen, zum Beispiel wenn sie im Playstation-Fieber liegen. In diesem Fall wird man das Sich-selbst-Entschuldigen allerdings nicht so einfach durchgehen lassen wie bei dem Studenten, der sich für sein Zuspätkommen selbst entschuldigt.
     
    Ich finde es nicht schlimm, wenn sich jemand selbst entschuldigt. Man kann doch schon froh darüber sein, wenn heute überhaupt noch um Entschuldigung gebeten wird. Das ist nämlich alles andere als selbstverständlich. Aber wenn ich in einem alten Spielfilm höre, wie jemand sagt: »Ich bitte vielmals um Entschuldigung«, dann gerate ich ins Schwärmen.
    Das Eingeständnis eines Fehlers oder Versagens ist nicht sehr angenehm, daher sind viele Menschen bemüht, sich selbst als Verursacher des Fehlers so weit wie möglich rauszuhalten. So bittet man bevorzugt nicht für sich selbst umEntschuldigung, sondern für den Fehler. Man tut also so, als sei der Fehler ein eigenständiges Wesen, ein Hündchen,

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