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Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod - Folge 3

Titel: Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod - Folge 3 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastian Sick
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das nicht sauber pariert hat. Da erklärt uns zum Beispiel eine Lautsprecherstimme in der U-Bahn, dass aufgrund irgendwelcher Bauarbeiten mal wieder alles anders komme als geplant, und schließt mit den Worten: »Wir bitten die entstehenden Unannehmlichkeiten zu entschuldigen.« Das ist psychologisch sehr raffiniert. Nicht die Leitung der U-Bahn soll entschuldigt werden, sondern die bösen, bösen Unannehmlichkeiten. Bei denen liegt die Schuld, folglich können auch nur sie entschuldigt werden. Dass die U-Bahn-Leitstelle sich für eine Entschuldigung ihrer Unannehmlichkeiten einsetzt, ist sehr großherzig. So nett sind die bei der U-Bahn zu ihren Unannehmlichkeiten!
    Das alles ist Ihnen zu haarspalterisch? Dann bitte ich Sie, mir zu verzeihen. Das kann ich übrigens noch nicht selbst. Wohlgemerkt: noch nicht. Aber wer weiß. Vielleicht heißt es irgendwann: »Ich verzeihe mir in aller Form, dass ich Sie belästigt habe!«

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    Wir sind die Bevölkerung!
    Manchmal geschieht es, dass Wörter, die jahrelang in aller Munde waren, aus der Mode geraten. Manche geraten sogar in Vergessenheit. Andere werden aus dem Wortschatz gestrichen, weil sie den Kriterien der »political correctness« widersprechen.
    So wie das Wort »Negerkuss«. Den Traum aus Eiweißschaum und Schokoladenglasur darf man inzwischen nur noch Schokokuss nennen, weil Negerkuss ein diskriminierendes Wort ist. Auch »Mohrenkopf« ist nicht mehr akzeptabel. Dass die österreichische Bezeichnung »Schwedenbombe« als diskriminierend empfunden würde, ist mir nicht bekannt. Irgendwo in Bayern sagt man auch »Bumskopf« dazu, und auch darüber hat sich noch keiner beschwert.
     
    Die Empfindlichkeiten sind nicht überall gleich stark, so wurden noch am Tag der Deutschen Einheit des Jahres 2005 in Ost-Berlin auf einem knalligen Straßenverkaufsschild Frische »Ost«-Negerküsse angepriesen, wobei das Wort »Ost« in Anführungszeichen stand, weil der Händler die Unterscheidung zwischen Ost und West ausgerechnet am Tag der Deutschen Einheit offenbar für scherzhaft hielt. Die »Negerküsse« hingegen standen nicht in Anführungszeichen, mit denen schien alles in bester Ordnung zu sein.
     
    Andere Wörter geraten in Verruf, weil sie für unheilige Zwecke missbraucht wurden. So erging es dem Wort »Volk«. Vielen war es nach 1945 nicht mehr genehm, da es von den Nationalsozialisten gehörig überstrapaziert worden war; angefangen vom »Volk ohne Raum« bis hin zum Volkssturm. Das Adjektiv »völkisch« war völlig unbrauchbar geworden, und viele Zusammensetzungen mit »Volk«hatten einen bitteren Beigeschmack bekommen. Spätestens seit den sechziger Jahren, als man dazu überging, die Geschichte nicht länger zu verdrängen, sondern aufzuarbeiten, gingen Politiker, Journalisten und Lehrer dem unbequemen Wort zunehmend aus dem Weg.
     
    »Volk« hatte einen bitteren Beigeschmack, vor allem in Verbindung mit dem Adjektiv »deutsch«. Das »deutsche Volk« war zu lange marschiert und zu entschlossen gewesen, seinem »Führer« in den Untergang zu folgen. Nun war es außerdem geteilt. Das machte es noch schwieriger, vom »deutschen Volk« zu sprechen, da man sich jedes Mal klarmachen musste, welches Deutschland überhaupt gemeint war.
     
    Doch ohne einen Sammelbegriff für die Menschen eines Landes oder einer Region kommt die Sprache auf Dauer nicht aus, es musste also ein Ersatzwort gefunden werden; eines, das unbelastet und unverfänglich war. So kam man auf »Bevölkerung«. Ein Wort, das Volk enthielt und Volk beschrieb, ohne allzu laut danach zu klingen. Es war perfekt! Und man brauchte es noch nicht einmal zu erfinden, denn es existierte bereits seit dem 18. Jahrhundert.
     
    Ursprünglich allerdings hatte es eine andere Bedeutung, denn »Bevölkerung« kommt von »bevölkern«. Im Jahre 1732 wurde das schwach besiedelte Ostpreußen mit 40.000 Ko-lonisten aus deutschsprachigen Gegenden bevölkert. Die von Friedrich Wilhelm I. angeordnete »Bevölkerung Ostpreußens« war ein Vorgang, in dessen Folge das Volk Ostpreußens anwuchs.
     
    Von seiner grammatischen Struktur ist das Wort »Bevölkerung« also kein Kollektivum (= Sammelbegriff) wie »Volk«,sondern beschreibt einen Vorgang: den Vorgang des Bevölkerns. Es bedeutet somit nicht »Volk«, sondern »Besiedelung«. Es bedeutet ja auch Bewässerung nicht dasselbe wie Wasser, Bestäubung nicht dasselbe wie Staub, Beschränkung nicht dasselbe wie Schranke und Beschwörung nicht dasselbe wie

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