Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod: Folge 5
Zusatznutzen? Braucht der Kunde überhaupt ein »und mehr«?
Wenn ich auf dem Weg zu einer Freundin noch rasch einen Strauß Blumen besorgen will, interessiert es mich nicht, ob der Laden, der sich »Blumen & mehr« nennt, außer Blumen noch etwas anderes führt. Was hab ich von dem »& mehr«, wenn die entscheidende Ware, nämlich rote Rosen, ausverkauft ist? An einen Keine-Rosen-mehr-da-Strauß hänge ich jedenfalls auch keinen »und mehr«-Artikel.
Vielleicht diente das »und mehr« anfänglich mal der Aufwertung. Inzwischen aber, so scheint es, dient es häufiger als Ausrede dafür, kein wirklicher Spezialist zu sein. Von einem Verkäufer, der neben Elektronik noch so viel »mehr« zu bieten hat, darf schließlich niemand verlangen, dass er sich mit Technik auskennt. Wenn’s der falsche Adapter war, den er Ihnen verkauft hat, dann war das nicht seine, sondern Ihre Schuld. Hätten Sie stattdessen mal lieber was aus der gut sortierten »und mehr«-Abteilung gekauft!
Wenn eine Fleischerei »Fleischwaren, Würstchen & mehr« anpreist, dann will ich als Verbraucher gar nicht wissen, was mit »und mehr« gemeint ist. Die Dreiergruppe beschreibt doch offensichtlich eine Abwärtskurve: Würstchen stehen qualitativ hinter Fleischwaren. Was also kann danach noch kommen? Knochen und Innereien?
Ein Fachgeschäft in Fulda führt laut Eigenwerbung »Hörgeräte und mehr«, und hier bekommt man als Kunde für das »und mehr« die Erklärung gleich mitgeliefert. In der Unterzeile nämlich heißt es: »Wer besser hört, hat mehr vom Leben«. Das ist ebenso richtig wie lustig, somit also lustig und mehr.
Da wir ja alle gern mit Worten spielen, war es unvermeidlich, dass Geschäftstreibende in Küstennähe das trockene »und mehr« aufgriffen und in ein feuchtes »und Meer« verwandelten. So inserieren zahlreiche Pensionen an Nord- und Ostseeküste heute mit »Urlaub und Meer«. Ein Fischgerichtehersteller hat sich »Lachs und Meer« als Markennamen registrieren lassen, und ein Café auf dem Darß verspricht gar »Meer und mehr«. Da kennt die Witzigkeit kein Halten mehr.
In den seltensten Fällen bedeutet ein Mehr an Worten auch ein Mehr an Qualität. Nicht zu Unrecht lautet eine bekannte Redensart: Weniger ist mehr! Und damit soll es an dieser Stelle auch genug sein. Es gibt schließlich noch mehr, über das sich zu schreiben lohnt! Ich empfehle Ihnen daher schon heute mein nächstes Buch mit dem Titel: »Dativ, Genitiv & mehr«.
Sprachliche Moden & mehr:
»Die reinste Puromanie« (»Dativ«-Band 1)
»Die maßlose Verbreitung des Mäßigen« (»Dativ«-Band 2)
»Haarige Zeiten« (»Dativ«-Band 3)
»Immer wieder einmal gerne« (»Dativ«-Band 4)
Verehren, verachten, vergönnen, verzeih’n
Wenn »verehren« so viel wie »besonders ehren« bedeutet, warum ist »verachten« dann nicht »besonders achten«? Wenn »verkennen« das Gegenteil von »kennen« ist, warum ist »vergönnen« dann nicht das Gegenteil von »gönnen«? Die Antwort auf diese Fragen steckt in der Vorsilbe: Das unscheinbare »ver« hat es in sich! Es ist ein wahrer Verwandlungskünstler.
»Lieber Onkel!«, schrieb mir mein Neffe zu Beginn des Sommers, »bald sind endlich Ferien. Wie du vielleicht schon weißt, fahre ich mit meinen Eltern nach Schweden. Darum ist es mir diesmal leider vergönnt, dich zu besuchen.« Dass vor dem Wort »vergönnt« ein »nicht« fehlte, hielt ich für verzeihlich. Im Eifer des Schreibens wird ein einzelnes Wort leicht unterschlagen. Bedauerlich hingegen fand ich, dass ich meinen Neffen in den Ferien nicht würde sehen können, auch wenn ich ihm die Reise nach Schweden natürlich von Herzen gönnte.
Ein paar Wochen später erhielt ich eine Postkarte, auf der zwei Elche zu sehen waren. Auf der Rückseite stand geschrieben: »Lieber Onkel! Viele Grüße aus Småland. Wir haben schon viel unternommen, nur zum Baden sind wir noch nicht gekommen, denn gutes Wetter war uns bisher vergönnt.« Ich wurde stutzig: Schon wieder fehlte ein »nicht«. Das konnte doch kein Zufall sein?!
Tatsächlich befand sich mein Neffe in dem Glauben, dass »vergönnen« das Gegenteil von »gönnen« sei. Was dem Menschen nicht ge-gönnt ist, das müsse ihm ver-gönnt sein, so glaubte er. Und hatte sich dabei ver-glaubt. Was mich wiederum über eines der rätselhaftesten Phänomene nachdenken ließ, die unsere Sprache zu bieten hat: die Vorsilbe »ver«.
Das Phänomenale sieht man ihr zunächst überhaupt nicht an. Wie »be«, »ge«, »ent«,
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