Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod: Folge 5
»er« und »zer« gehört sie zu den »Untrennbaren«, also zu jenen Vorsilben, die nicht allein stehend vorkommen und die auch keine Betonung tragen. Im Vergleich zu betonten, schillernden und sich selbst erklärenden Vorsilben wie »auf«, »bei«, »durch«, »hin«, »her«, »unter« und »über« ist »ver« so etwas wie die graue Maus im Vorsilbenzoo: unscheinbar und unspektakulär.
Doch wenn man genauer hinschaut, stellt man fest, dass keine andere Vorsilbe so häufig zum Einsatz kommt wie »ver«. Wortzusammensetzungen mit »ver« gibt es nicht nur ein paar, sondern Hunderte, wenn nicht gar Tausende. Im Rechtschreibduden nehmen sie mehr als 20 Seiten ein, dreispaltig bedruckt.
Mit »ver« lassen sich ebenso Eigenschaftswörter bilden (verliebt, verlobt, verheiratet, verschieden) wie auch Hauptwörter: Verdienst, Vernunft, Verlust, Verbot. Die meisten »ver«-Wörter aber sind Tätigkeitswörter, sprich Verben. Und obwohl »ver« doch nur eine Vorsilbe ist, gibt es sogar Verben, die ohne »ver« nicht mehr sein können. Im Wörterbuch findet man weder blüffen noch geuden, gessen, lieren, mummen, pönen, schwenden oder teidigen. Es gibt sie nur im Verbund mit »ver«. Anmerkung
Die Vorsilbe »ver« gab es schon bei den alten Germanen. Ursprünglich bedeutete sie »vorbei, hinfort«. Das zeigt sich noch heute in Wörtern wie »verklingen«, »verwehen«, »verjagen«, »vertreiben«, »verkriechen« und »verstecken«. Und sie ist nicht nur im Deutschen, sondern auch im Englischen, Niederländischen und in den skandinavischen Sprachen zu finden – als »ver«, »for« oder »för«. Im Englischen gibt es allerdings nur eine kleine Handvoll Wörter mit »for« wie »forgive« (= vergeben), »forget« (= vergessen), »forfend« (= verhüten) und »forlorn« (= einsam, verloren sein), und die meisten Englischsprechenden wissen vermutlich nicht einmal, dass dieses »for« nichts mit der gleichklingenden Präposition »for« (= für) zu tun hat. Das Niederländische verzeichnet hingegen etliche Wörter mit »ver«, die wir nur als »er«-Wörter kennen: »verklaren« (= erklären), »vertellen« (= erzählen), »verwachten« (= erwarten) und »vermoorden« (= ermorden). Doch keine Sprache macht von den Möglichkeiten des »ver« so regen Gebrauch wie das Deutsche. Dank »ver« konnten wir so klangvolle Wörter erschaffen wie »verhackstücken«, »verhohnepipeln«, »vergackeiern«, »verkasematuckeln«, »verbumfiedeln« und »versaubeuteln«. Ganz zu schweigen von »verbalisieren« und »vertikutieren«. Auch wenn die beiden letzten auf einem anderen Blatt stehen, so kommt man doch zu der Erkenntnis: Ohne »ver« könnten wir uns heute nicht nünftig ständigen, ohne »ver« wären wir loren!
Bei dem Versuch, das Phänomen »ver« zu erklären, hat sich schon mancher verbohrt, verbissen, verstiegen und verrannt. Denn »ver«-Wörter sind schwer zu kategorisieren. Sie können ein langsames Werden und Wachsen beschreiben und genauso ein jähes Ende und Verschwinden. Sie können eine fehlgeschlagene Handlung anzeigen oder eine erfolgreiche Umwandlung. Mal dreht die Vorsilbe »ver« das Grundwort in die eine, mal in die andere Richtung.
Mit Hilfe von »ver« kann man Dinge und Menschen zu etwas anderem umformen: Man kann aus einer Geschichte einen Film machen (»verfilmen«), aus Abfällen eine Wurst herstellen (»verwursten«) und durch »verbeamten« aus einem gewöhnlichen Sterblichen einen Beamten erschaffen.
Mit »ver« kann man auch selbst zu etwas werden , zum Beispiel arm oder blöd, zu Stein oder zum Greis, wie die Verben »verarmen«, »verblöden«, »versteinern« und »vergreisen« zeigen.
Durch »ver« können Dinge mit Merkmalen versehen werden, zum Beispiel mit Chrom (»verchromen«), Glas (»verglasen«), einem Gitter (»vergittern«) oder einer Beule (»verbeulen«). Auch Menschen können auf diese Weise mit etwas versehen werden, wahlweise mit einem Kabel (»verkabeln«), einem Schleier (»verschleiern«) oder einer Wunde (»verwunden«). Ein Gift, ein Zauber oder ein Fluch tun es auch, wie man an »vergiften«, »verzaubern« und »verfluchen« sehen kann.
Bei all diesen Verben geht »ver« eine Verbindung mit einem Eigenschaftswort oder einem Hauptwort ein. Noch häufiger aber verbindet es sich mit Verben. Dort ist es zu weit erstaunlicheren Leistungen imstande.
Mit Hilfe von »ver« lassen sich Objekte an einen anderen Ort bringen (verlagern, verrücken, verschieben) oder dem Zugriff
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