Der Derwisch und der Tod
Hoffnung ist die
Kupplerin des Todes, ein gefährlicherer Mörder als der Haß. Sie verstellt
sich, versteht zu schmeicheln, beruhigt, schläfert ein, flüstert dem Menschen
zu, was er sich wünscht, führt ihn unters Messer. Nur Ishak lief davon. Sie
hatten ihn abgeholt in jener Nacht, geradeso wie mich, nein, es waren mehr
Bewacher gewesen, mit ihm war es etwas anderes, er war ihnen wichtig, ich war
keinem wichtig, sicher hatte er nicht auf das Hundegebell gehört, hatte nicht
geglaubt, daß er träumen und aufwachen würde, sicher hatte er gewußt, wohin sie
ihn führten, und er hatte keine Hoffnung gehabt, am Leben zu bleiben. Er hatte
sich selbst nicht betrogen, wie andere es getan hatten. Sofort hatte er
beschlossen zu fliehen, es war sein erster Gedanke und sein einziger. Darum
ging er behutsam, er fürchtete, der Gedanke könne sich selbst verraten, aus
ihm rufen, so stark war er, und er sah unablässig und gespannt ins Dunkel, der
Mond schickte sein Licht, verräterisch, feindlich, Ishak aber hielt Ausschau
nach Schatten, nach dem dichtesten, der ihn decken würde, und er entschloß sich
plötzlich, als er den Eindruck hatte, sie seien unaufmerksam und eine andere
Gelegenheit würde sich nicht mehr bieten. Einen Augenblick lang, nur einen
einzigen, kurzen Augenblick, war ich er, vor dem Sprung, vor der Flucht, sie
waren hinter mir, neben mir, verbunden waren wir fester als Freunde, fester
als Brüder, gleich würde dieses Band reißen, ein gewaltsamer schmerzlicher Riß
würde sich zwischen uns auftun, ohne mich waren sie nichts, weh tun würde ihnen
die Trennung, und alles würde sich in ungreifbar winzigen Zeitteilchen
entscheiden, wir würden der Zeit nicht einmal bewußt sein, würden nur von dem
Sprung, dem Geschehen eines Augenblicks, wissen, und doch und doch – jedes Dunkel
war noch zu durchsichtig, jeder Schritt zu kurz, jede Deckung zu offen.
Umsonst. Wohin fliehen?
Ich ermattete, ohne es versucht zu
haben, allein von der Absicht. Weil ich mich nicht entschloß, weil ich mich
nicht zu entschließen brauchte. Dies war nicht Ishaks Sache, es war meine
Sache, geringer als die Wirklichkeit – oder höher: etwas Unmögliches, was
dennoch irgendwie geschah.
Aus der einen Finsternis führten sie
mich in eine andere, ohne Gestalt und ohne Ort, weil ich nichts sah, weil ich
ganz in mich selbst, ganz in eine Gedankenfolge vertieft war, in der mir auch
das entging, was ich hätte wahrnehmen können. Wir wechselten das Dunkel, ich
merkte es daran, daß wir uns bewegten und daß die Zeit verging, wiederum merkte
ich das Vergehen erst, wenn es geschehen war.
Irgendwo begegneten sie jemandem,
sie flüsterten untereinander, wieder nahm mich jemand in die Zange, ich war
eine Kostbarkeit geworden, die man nicht verlieren darf, ich wußte nicht mehr,
wer bei mir war, es hatte auch nichts zu bedeuten, alle waren sie gleich, alle
waren sie Schatten, alle waren sie meinetwegen bei diesem nächtlichen Tun. Sie
konnten einander ablösen, mich konnte niemand ablösen.
Als ich mit der Stirn an einen
niedrigen Türpfosten stieß, wußte ich, wir waren angelangt. Ich war
angelangt, sie würden zurückkehren. Die Mauern würden sie ablösen.
„Gebt mir Licht!" schrie ich
gegen die eisenbeschlagene Tür, als ich drin stand, nie hätte ich geglaubt, daß
es irgendwo auf Erden solche Finsternis gebe.
Das war der letzte Rest Gewohnheiten
von draußen, das letzte übriggebliebene Wort. Keiner hörte es, oder keiner
wollte es hören, oder keiner konnte es verstehen. Es konnte wie Fieberwahn
klingen.
Die Schritte entfernten sich, sie
hallten irgendwo, in einem Korridor wohl. Und dies war wohl ein Gefängnis. Und
dies war wohl ich. Oder ich war es nicht? Ich war es, leider. Das Denken ging
im traumgleichen Nebel nicht verloren, ich löste mich auch nicht von mir
selbst, um mich aus der Ferne zu betrachten, wie einen anderen, ich war bei
Bewußtsein, wach, unangenehm deutlich sah ich alles, hier gab es keinen Trug.
Lange trennte ich mich nicht von der
Tür und von dem scharfen Geruch verrosteten Eisens, es war der erste Ort, wo
ich in dem mir bestimmten Dunkel stand, ein Ort, den ich schon einen ganzen
Augenblick kannte und der mir darum weniger gefährlich schien. Und dann begann
ich im Kreise herum auf Entdeckung zu gehen, wie blind, dem Tastsinn mich
überlassend und überall die schwere Feuchte der rauhen Wand fühlend, als
steckte ich in einem Brunnenschacht. Auch unter mir war Feuchte, ich fühlte sie
mit den Füßen,
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