Der Derwisch und der Tod
ohne Züge.
Nichts war an ihm, keine Augen, kein Mund.
„Was willst du?" fragte ich,
und ich fürchtete, er würde nicht antworten können. „Wer bist du?"
„Džemal."
„Wo haben
sie mich hingeführt? Was ist das hier?"
„Essen teilen wir einmal aus. Nur.
Morgens." Seine Stimme war heiser, tonlos.
„Hat jemand
nach mir gefragt?"
„Willst du essen?"
Alles schien mir schmutzig, klebrig,
faulig, allein der Gedanke ans Essen bereitete mir Übelkeit.
„Ich will
nicht essen."
„Sagen alle. Den ersten Tag. Dann
verlangen sie's. Brauchst mich später nicht zu rufen."
„Hat mich
jemand gesucht?"
„Nein. Keiner."
„Meine Freunde werden mich suchen.
Komm dann gleich und sag mir's."
„Wer bist du? Wie heißt du?"
„Ich bin
Derwisch, Scheich einer Tekieh. Ahmed Nurudin." Er schloß das Fensterchen
und öffnete es wieder.
„Weißt du Gebete? Kannst du Amulette
schreiben? Gegen Gliederreißen?"
„Nein."
„Schade. Es
bringt mich um."
„Naß ist es
hier. Wir werden alle krank."
„Ihr habt's leicht. Euch lassen sie
raus. Oder töten euch. Ich bleib ewig. So "
„Hast du ein Brett, vielleicht ein
Tuch? Ich kann mich nicht hinlegen."
„Gewöhnst dich dran. Hab
nichts."
Der Derwisch Ahmed Nurudin, Licht
des Glaubens, Scheich der Tekieh. Den hatte ich vergessen, eine ganze Nacht
lang hatte ich keinen Rang, keinen Namen gehabt. Wieder ins
Bewußtsein, ins Leben gebracht hatte ich ihn vor diesem Menschen. Ahmed
Nurudin, Prediger und Gelehrter, feste Säule, Schutz und Schirm der Tekieh,
Ruhm der Stadt, Gebieter über Menschen. Jetzt verlangte er ein Brett und ein
Tuch von Džemal, der Fledermaus, damit er sich nicht in den Schmutz legen
mußte, und er wartete darauf, daß man ihn erwürge
und tot in den Schmutz lege, in den er sich lebendig nicht hat legen wollen.
Besser ist es doch ohne Namen, mit
Wunden und Schmerzen, mit dem Vergessen, mit den Wunden und der Hoffnung auf
den Morgen, der tote Morgen ohne Dämmerung aber hat Ahmed Nurudin aufgeweckt,
die Hoffnung erstickt, die Wunden und den Schmerz des Körpers ins Nicht
bestehen verdrängt. Wieder sind sie unwichtig geworden angesichts der
schwereren und gefährlicheren Drohung, die gegen mich aufstieg, um mich zu
vernichten.
Ich hütete mich vor dem Wahnsinn,
alles andere mochte sein. Der Wahnsinn aber wäre nicht mehr aufzuhalten, wenn
er ausbräche, alles in mir würde er versengen, vernichten, eine Wüste würde
bleiben, grausiger als der Tod. Dennoch spürte ich, wie er mir zublinzelte,
sich rührte, meine Gedanken konnten sich an nichts klammern, bestürzt wandte
ich mich um, suchte, es war doch dagewesen, bis gestern, eben noch, wo war es,
ich suchte umsonst, nirgendwo ein Halt, in den Schmutz war ich gesunken, alles
gleich, alles umsonst, Scheich Nurudin.
Die aufsteigende Woge aber hielt
inne, wuchs nicht weiter. Ich wartete verwundert: Stille.
Ich stand auf, langsam, hielt mich
an den Wänden fest, fand mit den Handflächen Stütze an glitschigen Höhlungen, ich
wollte aufrecht stehen. Noch hoffte ich, man würde mich suchen, würde kommen,
der Tag hatte erst begonnen, ein Augenblick der Schwäche würde mich nicht
töten, und gut war es, daß ich mich seiner schämte.
Und ich wartete, wartete, im
Vergehen langer Stunden hielt ich das Feuer des Hoffens am Leben, tröstete mich
mit dem Schmerz und den heißen Wunden, lauschte auf Schritte und wartete
darauf, daß die Tür sich öffne, daß wenigstens eine Stimme zu mir dringe, und
die Nacht sank herab, ich merkte es daran, daß ich die Augen nicht mehr
brauchte, ich schlief in stinkendem Schlick, erschöpft, erwachte ohne den
Wunsch, mich auf dem Stein aufzurichten, und verzehrte am Morgen das Essen, das
mir Džemal gab, und wartete wieder, die Tage vergingen, eine nach der anderen
stellten sich die graubraunen Dämmerungen ein, und ich wußte nicht mehr, ob ich
wartete.
Da geschah es, daß ich, geschwächt,
im Halbschlaf, erschöpft vom Warten, aufgezehrt von der Feuchte, mit der sich
meine Knochen, meine Glieder vollsogen, in einem Fieber, das mich erwärmte und
für einen Augenblick aus dem Grab entführte – daß ich mit meinem Bruder Harun
sprach.
Jetzt sind wir gleich, Bruder Harun,
sagte ich zu ihm, dem Unbeweglichen, Stummen. Ich sah nur seine Augen, fern,
streng, verloren in der Finsternis, ich folgte ihnen, führte sie zu mir her
oder ging ihnen nach. Jetzt sind wir gleich, unglücklich wir beide; wenn ich
schuldig war, jetzt gibt es keine Schuld mehr, ich weiß, wie
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