Der Derwisch und der Tod
sie hafteten widerlich an etwas Klebrigem. Da ich nichts fand,
kehrte ich bald wieder an die Tür und zu dem herben Eisengeruch zurück – er
schien mir erträglicher als die Ausdünstung der Feuchte.
Umgrenzte Leere, ummauerte Öde –
hier würde ich nicht viel sehen, ich fragte mich, ob ich überhaupt das
brauchte, was ich von früher, von vorher wußte. Weder die Augen konnten mir
nützen noch die Hände, noch die Füße, noch die Erfahrung, noch der Verstand,
ich konnte ruhig in den Zustand von Hafiz Muhameds ersten Lebewesen
zurückkehren.
Soviel Mühe im Leben, für diese zwei
Schritte Feuchte und für vollkommene Finsternis!
Winzig war diese meine neue Wohnung,
doch immerhin hätte ich mich ausstrecken können, wenn da etwas zum Ausstrecken
gewesen wäre. Während ich das Grab abtastete, stieß ich auf einen Stein an der
Wand, ich blieb neben ihm stehen, mochte mich nicht setzen. Noch konnte ich
entscheiden. Es war, als warte ich, daß die Tür sich öffne und daß jemand mich
hinausließe: Los, kannst gehen! Vielleicht fiel es allen so schwer, sich in
Schmutz und Nässe niederzulassen, vielleicht hofften sie auf etwas, warteten
und wurden müde vom Warten, wenn sie die Hoffnung aufgaben.
Das dauert nicht lange. Bald setzte
auch ich mich auf den Stein, es war ein Übergang, noch gab ich mir Mühe, mich
nicht an die Mauer zu lehnen, und dann lehnte ich mich an, fühlte, wie die
Feuchte langsam in mich eindrang. Es konnte beginnen, das lautlose Zersetzen in
Wasser und nichts, etwas anderes hatte ich nicht zu tun.
Ich weiß nicht, ob mir die
verletzten Stellen auch vorher weh getan hatten, ich hatte es jedenfalls nicht
bemerkt, oder der Schmerz hatte sich vor Wichtigerem geduckt. Jetzt meldeten
sich die Wunden, weil die Zeit für den Schmerz gekommen war oder weil sich der
Körper gegen das Vergessenwerden empörte und mich mahnte, an ihn zu denken.
Unbewußt nahm ich die überraschende Hilfe an, mit den Fingern begann ich die
Wunden zu kneten, breitete den Schmerz aus, verteilte ihn, damit er nicht an
einer Stelle bleibe, stopfte Öffnungen zu, damit kein Blut fließe – ich spürte
es klebrig auf der Hand. Gestern abend hatten sie mir in der Tekieh die Wunden
mit Kamille und reiner Watte gesäubert, und jetzt drückte ich in das zerfetzte
Gewebe all den schmierigen Schmutz von der Wand, und es war mir gleichgültig,
ich dachte nicht an das, was sein würde, ich dachte an den Augenblick, der
Schmerz war stark, glühend heiß wurde er im Finstern, durch ihn bestand ich,
mein Körper führte mich ins wirkliche Leben zurück. Ich brauchte diesen
Schmerz, er war ein Teil meines lebendigen Ichs, war begreiflich, glich dem
droben auf der Erde, wehrte die Finsternis ab und das vergebliche Suchen nach
irgendeiner Antwort hinderte mich daran, an meinen Bruder zu denken, denn er
hätte an der schwarzen Wand meines Grabes erscheinen können, mit einer Frage,
auf die ich keine Antwort wußte.
Ich schlief ein, die Handfläche auf
eine Wunde haltend, als hütete ich sie davor, zu verschwinden, ich saß auf dem
Stein an der feuchten Wand und fand wieder die Wärme unter der Handfläche, wie
in einem Nest. Sie lebte, sie schmerzte. Wie hast du geschlafen? hätte ich sie
gerne gefragt. Ich war nicht allein.
Ich freute mich, als ich eine kleine
Öffnung in der Wand dicht unter der Decke bemerkte, der Morgen entdeckte sie
mir, und wenn auch das Tageslicht Wunsch und Ahnung blieb, war doch meine
Finsternis nicht mehr so vollkommen. In jener Welt dämmerte der Morgen, und
davon wurde es auch in mir ein wenig heller, obgleich die Nacht fortdauerte.
Ich starrte auf den dunkelgrauen Fleck über mir, ermutigt, als betrachtete ich
den schönsten rosigen Sonnenaufgang über den breiten Bergrücken meiner
Kindheit. Morgendämmerung, Licht, Tag – wenn auch nur als Ahnung, so bestand es
doch, nicht alles war verschwunden. Und als ich den Blick von dem armseligen
bißchen Licht löste, war ich geblendet, und das Dunkel in meinem Keller war
wieder undurchdringlich.
Erst als ich mich daran gewöhnt
hatte, sah ich, daß es sich um eine ewige Nacht handelte, in der die Augen
immerhin gebraucht wurden. Ich sah mich um, doch ich erkannte nur das wieder,
was meine Finger schon gesehen hatten.
Eine viereckige Öffnung in der Tür
tat sich quietschend auf, kein Licht kam herein, keine Luft. Jemand spähte aus
dem anderen Dunkel, draußen, zu mir her.
Ich trat an die Öffnung, wir sahen uns aus nächster Nähe an.
Ein bärtiges Gesicht,
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