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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meša Selimović
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einsam du warst
und wie du darauf wartetest, daß dir jemand ein Zeichen gebe, an der Tür
standest du, lauschtest auf Stimmen, Schritte, Worte, glaubtest, sie gälten
dir, immer von neuem. Vereinsamt stehen wir nun da, ich und du, keiner ist
gekommen, keiner hat sich nach mir erkundigt, keiner hat sich meiner erinnert,
leer geblieben ist der Weg zu mir, ohne Spur und ohne Erinnern, besser wäre es
freilich gewesen, ich hätte es nicht gesehen. Du hast auf mich gewartet, ich auf Hasan, umsonst,
jeder wartet immer umsonst, jeder bleibt immer am Ende allein. Wir sind gleich,
wir sind unglücklich, wir sind Menschen, Bruder Harun.
    Ich schwöre es bei der Zeit, dem
Anfang und Ende aller Dinge, daß jeder Mensch immer Verlust erleidet.
    „Ist jemand gekommen?" fragte
ich Džemal aus Gewohnheit, ohne noch zu hoffen.
    „Nein.
Niemand."
    Ich wollte hoffen, denn man kann
nicht leben ohne Erwartung, doch mir fehlte die Kraft. Ich verließ meinen
Horchposten an der Tür, setzte mich, wo ich gerade war, still, besiegt, immer
stiller werdend. Ich verlor das Gefühl für das Leben, die Grenze zwischen
Wachsein und Traum verschwand, in Wahrheit geschah das, was ich träumte, ich
wanderte frei auf den Pfaden der Jugend und der Kindheit, nie durch die Gassen dieser
Stadt, so als könnten sie mich selbst aus dem Traum ins Gefangensein führen,
ich unterhielt mich mit Menschen, die mir vor langer Zeit begegnet waren, und
schön war es, weil es kein Erwachen gab, weil ich nichts vom Erwachen wußte.
Auch Džemal war ein Traum, auch das Dunkel um mich, auch die nassen Wände, und
selbst wenn ich zu mir kam, litt ich nicht so sehr. Auch zum Leiden braucht man
Kraft.
    Ich begriff, wie der Mensch langsam
stirbt, und ich sah, es ist nicht schwer. Auch nicht leicht. Es ist nichts. Man
lebt nur immer weniger, man ist immer weniger, man denkt und fühlt und weiß
immer weniger, der volle kreisende Strom des Lebens trocknet aus, es bleibt ein
dünnes Endchen unsicheren Bewußtseins, immer armseliger, immer
bedeutungsloser. Und dann geschieht nichts, ist nichts, ist das Nichts. Und es
macht gar nichts, ist ganz gleichgültig.
    Als dann einmal in diesem Welken
ohne Zeit – denn die Zeit riß ab, bestätigte sich nicht als Dauer Džemal etwas
sagte, durch die Öffnung in der Tür, begriff ich nicht gleich, was er wollte,
aber ich wusste, es war wichtig. Ich wachte auf und verstand: Freunde hatten
mir Geschenke gebracht.
    „Was für
Freunde?"
    „Weiß
nicht. Zwei. Nimm."
    Ich wußte es. Ich hätte nicht zu
fragen brauchen, ich hatte auch gewußt, daß sie kommen würden. Hatte es längst
gewußt, es hatte lang gedauert, aber ich hatte es gewußt.
    Ich kratzte mit den Fingern an der
Tür, um mich aufzurichten. Nicht zufällig hatte ich hier gesessen.
    „Zwei?"
    „Ja. Die
haben's dem Wächter gegeben."
    „Was haben
sie gesagt?"
    „Weiß
nicht."
    „Sag, er
soll fragen, wer sie sind."
    Ich wollte vertraute Namen hören.
Hasan und Harun. Nein, Hasan und Ishak.
    Ich nahm das Päckchen, das Nahrung
enthielt, Datteln und Kirschen, sie waren grüne Kügelchen gewesen, als ich hier
hereinkam, erst waren sie rosige Blüten gewesen, und ich hatte gewünscht, ihr
farbloses Blut möge mich durchströmen und ich möge ohne Schmerzen jeden
Frühling blühen, wie sie – das war damals gewesen, vor langem, in einem Leben,
das noch schöner war. Vielleicht war es mir damals schwer erschienen, dachte
ich aber an jenes Leben von diesem Ort aus, so wünschte ich mir, es möge
zurückkehren.
    Ich hatte Angst, die Sachen könnten
mir zu Boden fallen, meine Hände krümmten sich, meine Hände freuten sich, meine
Hände waren unverständig und gehorchten mir nicht, sie preßten diesen Beweis,
daß ich nicht tot sei, fest an die Brust. Ich hatte gewußt, sie würden kommen,
ich hatte es gewußt! Ich neigte den Kopf darüber und sog den frischen Hauch des
Frühsommers ein, gierig, durstig, noch und noch, Modergeruch würde sich bald in
diesen klaren roten Kirschduft mischen, mit schmutzverschmierten Fingern
berührte ich ein wenig die zarte, kindliche Haut der Früchte, im nächsten
Augenblick, in der nächsten Stunde würden sie schrumpfen, altern. Ganz gleich,
ganz gleich. Es war ein Zeichen, es war ein Gruß aus der anderen Welt. Ich war
nicht allein, es gab Hoffnung. Solange ich geglaubt hatte, das Ende sei nahe,
hatte ich keine Tränen gekannt, jetzt aber stürzten sie ohne Unterlaß aus den
wiederbelebten Augenhöhlen, ließen gewiß Spuren auf den

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