Der Derwisch und der Tod
„Wer wir sind! Was es doch für Narren auf der Welt gibt! Vielleicht nehmen
wir dich gleich mit, dann weißt du, wer wir sind."
„Nehmt mich doch mit!" rief der
Leichnam unerwartet – so verwirrt war er. „Führt uns alle ab! Alle sind wir so
schuldig wie er!"
„Dummkopf!" erklärte der
Polizeibüttel sachlich. „Dräng dich nicht vor, kann sein, du kommst uns auch
noch dran!"
„Wer sich
mit Gewalttat brüstet ..."
Er vollendete nicht, was ihn
vielleicht ins Verderben gestürzt hätte, rechtzeitig hinderte ihn daran ein
jäher Hustenanfall, nie hätte er ihm nützlicher sein können. Er rang nach
Luft, als wäre ihm alles Blut in die Kehle geschossen; das ist die Aufregung,
dachte ich, ohne ihn zu bedauern – er blieb ja hier. Ich sah zu, wie er sich
quälte, in Krämpfen wand, ich sah zu und stand da, allein, schaudernd vor
diesem unerwünschten Hinausgehen in die Nacht. Das aber wollte ich nicht
zeigen.
Ich wollte zu Hafiz Muhamed treten,
ihm helfen. Der Polizeibüttel hielt mich zurück.
„Krank ist der Kerl", sagte er
ruhig, es klang wie Schimpfen oder Verachtung. Und mir gab er ein Zeichen, ich
solle hinausgehen.
Vor der Tekieh wartete noch ein Mann
auf uns.
Sie gingen neben mir, hinter mir.
Ich bewegte mich wie in einer Zange, eingepreßt.
Finster war es, kein Mond und kein
heiteres Licht, Nacht ohne Gesicht und ohne Leben, nur Hunde bellten in den
Höfen, sie erwiderten fernes Gebell, das vom Berghang, beinahe
vom Himmel herabkam. Mitternacht war vorbei, die Geister trieben ihr Wesen, die
Menschen schliefen, unerreichbar, Heiteres träumend, im Dunkeln, auch die
Häuser lagen im Dunkeln, die Stadt, die Welt, dies war die Stunde des
Abrechnens, die Stunde böser Taten, da war keine Menschenstimme, kein
menschliches Antlitz, nichts als diese Schatten, die den meinen bewachten.
Nichts war da, nur die aufgeregte Hitze meines Inneren lebte in dieser düsteren
Einöde.
Dann und wann, hier und da flackerte
ein ängstliches, trübes Lämpchen – weil jemand krank war, weil ein Kind zur
Unzeit von meiner Furcht aufwachte, weil etwas unheildrohend raschelte; der
Gedanke an diese friedliche Welt schreckte mich, ich drängte ihn zur Seite, um
nicht mich selbst zu sehen, wie ich in der Dunkelheit dahinschreite, einem unbekannten
Schicksal entgegen, irgendwohin, ganz sinnlos, nirgendwohin, es kam mir nur
vor, als schritte ich dahin, ich verlor das Gefühl für die Wirklichkeit, als
wäre ich nicht auf dieser Welt, als wäre ich nicht wach; das geschah des
Dunkels wegen, der gestaltlosen Schatten wegen, deswegen, weil ich nicht
glauben mochte, daß ich das sei, dass ich das sein könne. Nein, das ist ein
anderer, ich kenne ihn, ich sehe ihn an, vielleicht ist er verwundet,
vielleicht verängstigt. Oder ich hatte mich verirrt, wusste nicht, wo ich mich
befand, war irgendwo, an einem seltsamen Punkt in meinem Leben, auf der mir
bestimmten Lebensbahn, niemals vorher war ich an diesem Ort gewesen, ich konnte
nicht heraus, aber jetzt gleich w ii rde jemand ein Licht entzünden und mir den
Weg zu einem sicheren Unterschlupf weisen. Doch keiner entzündete ein Licht,
die ersehnte Stimme, die mir geholfen hätte, den Weg zu finden, blieb aus, die
Nacht dauerte fort und die fremde Umgebung und die Enttäuschung – alles war ein
häßlicher Traum, gleich würde ich erwachen und aufatmen.
Warum schreien die Menschen nicht,
wenn man sie in den Tod führt, warum geben sie nicht Kunde von sich, warum
rufen sie nicht um Hilfe? Warum fliehen sie nicht? Auch wenn sie niemand haben,
dem ihr Schreien gilt, dem sie Kunde geben könnten – die Menschen schlafen, und
keinen Weg gibt es zur Flucht, alle Häuser sind fest verriegelt. Ich spreche
nicht um meinetwillen, ich bin nicht zum Tode verurteilt, man wird mich freilassen,
wird mich bald zurückschicken, von selbst werde ich zurückkehren, durch
vertraute Gassen, nicht durch diese fremden, schrecklichen, niemals mehr werde
ich mein Gehör diesem Hundebellen öffnen, dem hoffnungslosen Bellen gegen Tod
und Leere, die Türen werde ich schliessen, mir die Ohren mit Wachs verstopfen,
um es nicht zu hören. Haben es alle gehört, die man abholte? War ihnen dieses
Bellen ein letztes Geleit? Warum schrien sie nicht? Warum flohen sie nicht? Ich
würde schreien, wenn ich wüßte, was mich erwartet, ich würde fliehen. Alle
Fenster würden sich auftun, alle Türen sich weit öffnen.
O nein, keine einzige. Darum floh
keiner – sie wußten es. Oder sie hatten noch Hoffnung.
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