Der Derwisch und der Tod
Aber ich hatte keinen anderen Weg gesehen. Ich wollte es
herausbekommen. Hasan lebte mit Menschen anderen Schlages, in einer anderen
Welt, alles enthüllte sich ihm leicht. Mir hatte keiner etwas gesagt, und ich
hatte meine und Jusufs Seele verdrehen müssen, um die Wahrheit zu ergründen.
Lang war dieser Weg gewesen, alles hatte ich nach und nach in Bruchstücken
erfahren. Viel Zeit kostete es mich, das herauszubekommen, was zwei gewöhnliche
Menschen einander an der Straßenecke, bei einer kurzen Begegnung zuflüsterten.
Bestürzt machte mich der Gedanke, der sich in mir nun aufdrängte: wie sehr ich
doch von den Menschen geschieden, wie vereinsamt ich doch war. Aber ich schob
ihn beiseite, später, wenn alles abgeschlossen wäre, würde ich ihn
weiterverfolgen.
Der Regen hatte aufgehört, warmes,
sonniges Wetter hatte sich beinahe ohne jeden Übergang eingestellt. Ich trat
hinaus auf die Gasse und wanderte ein gutes Stück Weges den Fluß entlang, ich
sah zu, wie die Erde unter dem üppig aufgeschossenen Gras dampfte, ließ den
Blick auf der heiteren Weite des Himmels ruhen, geradeso war er über jener
Ebene und über meiner Heimat gewesen, aber mich zog es nicht fort, verschwunden
waren die Angst und das drohende Brausen der anschwellenden Wasser in der
Finsternis, verschwunden war auch meine Ohnmacht. „Da bin ich!" rief ich
schadenfroh jemandem zu, da ich wohl wußte: Schon daß ich lebe, ist eine
Drohung. Ich fühlte das Bedürfnis, mich zu rühren, etwas Bestimmtes und
Nützliches zu unternehmen.
Ich hatte ein Ziel.
Ich ging unter die Menschen, gefaßt,
still, mit Geduld gewappnet. Dankbar nahm ich alles auf, was sie mir bieten
konnten: Schimpfen und Höhnen und Mitteilung.
Ich ging nicht aufs Geratewohl. Wenn
ich auch zuweilen von der Richtung abkam, wenn ich auch im Weglosen irrte,
immer kehrte ich auf den Weg zurück, den ich verfolgte. Wegweiser war mir meine
Beharrlichkeit, auch ein Wort, das ich hier oder da gehört hatte, eine
Vermutung, eine genießende Bemerkung über mein Unglück, das Verwundern über den
Wechsel meines Geschicks, und ich schritt immer sicherer aus auf der Suche nach
dem Geheimnis, immer reicher und immer ärmer werdend von dieser Nachlese, von
diesen Almosen fremder Worte, fremden Hasses, fremden Mitleids.
Ich unterhielt mich mit dem
Nachtwächter, mit Kara-Zaim, mit Stadtwächtern, Glaubensschülern, Derwischen,
mit Erbosten, Unzufriedenen, Zweifelhaften, mit Menschen, die als einzelne
wenig, die zusammen aber alles wußten. Ich zeigte das sanfte Gesicht eines
Menschen, der weder Rache noch Gerechtigkeit sucht, sondern der die
abgerissenen Fäden zur Welt wieder knüpfen, in der Liebe zu Gott wieder Frieden
finden möchte – was uns bleibt, auch wenn wir alles verloren haben. Manche waren mißtrauisch, manche grob und
rücksichtslos, ich aber hielt mich zurück, blieb ruhig, auch wenn sie mich mit
Schimpfworten überhäuften, ich zog den Kopf ein und war nur darauf bedacht,
wenigstens ein Fünkchen Wahrheit zu erhaschen – in einer Tönung der Stimme, in
einem Fluch, in einem Aufzucken der Freude, in scheinbarem oder echtem Mitleid,
in Zeichen edler Gesinnung sogar, die mich mehr überraschte als die Gemeinheit.
Und alles merkte ich mir.
Als ich diesen Weg der Pein zu Ende
gegangen war und auch das erfahren hatte, was ich nicht brauchte, war meine
Naivität vor Scham gestorben.
So durchlief ich die letzte Schule
und gelangte ans Ende. Nun hatte das geschehen sollen, was ich erwartet hatte.
Aber nichts hatte mehr zu geschehen, und ich erwartete auch nichts mehr. Ich
war geschlagen, einzig das hatte ich erreicht. Unter den Menschen aber hielt
sich die schöne Geschichte von einem Derwisch, der sich mit ihnen – es war zum
Lachen – ruhig und gesetzt über ihr Leben und sein Leben unterhielt, sie zu
Liebe und Vergebung ermahnte, so wie er zu vergeben bereit war, und der sich
selbst und auch sie mit Gott und dem Glauben und mit dem Jenseits tröstete,
das schöner sei als diese Welt.
Als ich von Abdulah Effendi, dem
Scheich der Sinan-Tekieh, zurückkehrte (auch zu ihm geriet ich schließlich –
es stellte sich heraus, daß wir uns gegenseitig nicht getraut und daß wir uns
beide getäuscht hatten, und er mochte mir um dieses leeren Verdachtes willen so
manches Böse angetan haben, ebenso wie ich ihm), erblickte ich Mula Jusuf im
Garten, am Fluß. Ein Zucken durchlief ihn, als ich das Tor öffnete und eintrat;
er sah mich ängstlich unruhig an, mit krankhaft brennenden
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