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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meša Selimović
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getan, ihn in
Ruhe zu lassen", meinte er, und er sprach nicht von der Güte, sondern vom
Nutzen, seine Anerkennung klingt zuweilen herb. „Wenn du ihn fortjagst, kommen
andere. Der da ist weniger gefährlich, denn du weißt, wer er ist."
    „Keiner ist mir mehr gefährlich. Ich
werde ihn in Ruhe lassen, mag er tun, was er für richtig hält. Ich kann ihn
nicht einmal hassen. Ich bedaure ihn sogar."
    „Auch ich. Unbegreiflich ist mir,
daß ein Mensch nur von seinem eigenen und von fremden Unglück lebt. Daß er an
das eigene denkt und es anderen bereitet. Gewiß weiß er, wie die Hölle
aussieht."
    „Warum hast du's mir nicht gesagt,
als du es erfahren hattest?"
    „Ich hätte nichts mehr verhindern
können. Alles war schon geschehen. Ich ließ dich weitersuchen und dich
allmählich an den Gedanken gewöhnen. Hättest du es unverhofft erfahren, wer
weiß, was du getan hättest."
    „Ich hatte gemeint, ich würde etwas
tun, wenn ich den Schuldigen fände. Doch nichts kann ich tun."
    „Du tust viel", sagte er
ernsthaft.
    „Ich tue nichts. Ich lasse die Zeit
vergehen, ich habe die Stütze verloren, keine Freude ist in dem, was ich
unternehme."
    „So darfst du nicht denken. Setz dir
ein Ziel, raff dich auf."
    „Wie?"
    „Mach dich auf den Weg. Ganz gleich,
wohin. Nach Hause, nach Johovac. Verändere die Gegend, die Menschen, den
Himmel. Es ist Erntezeit. Roll die Ärmel auf, reih dich unter die Schnitter,
arbeite, daß dir der Schweiß rinnt, daß du müde wirst."
    „Traurig ist es jetzt bei mir zu
Hause."
    „Dann komm mit mir. Ich rüste zum
Aufbruch, an die Save geht es. Wir werden in Herbergen übernachten, mit Flöhen,
oder im Freien, mit Wind und Regen, halb Bosnien werden wir durchqueren, auch
nach Osterreich schaun wir hinüber, wenn du willst."
    Ich lächelte: „Du meinst, das Reisen
sei für jedermann ein Vergnügen, gerade wie für dich. Sogar Medizin."
    Ich hatte die richtige Stelle
berührt, die Saite begann zu tönen.
    „Jedem sollte man verordnen, von
Zeit zu Zeit auf Reisen zu gehen", sagte er, in Feuer geratend. „Ja mehr
noch; verordnen sollte man, daß er sich nie länger als nötig aufhalte. Der
Mensch ist kein Baum, das Gebundensein ist sein Unglück, es nimmt ihm den Mut,
mindert sein Selbstgefühl. Wenn der Mensch sich an einen Ort bindet, geht er
auf alle Bedingungen, auch die ungünstigen, ein, er macht sich selber Angst
mit der Ungewißheit, die auf ihn warte. Wechsel des Ortes, das heißt für ihn:
im Stich lassen, aufgeben, das Geschaffene verlieren, das heißt, daß den Raum,
den er gewonnen hat, ein anderer einnimmt und daß er selbst von vorn wird
beginnen müssen. Sich eingraben, das ist der eigentliche Beginn des Alterns,
denn der Mensch ist jung, solange er sich nicht fürchtet, neu zu beginnen. Wenn
der Mensch bleibt, ist er Duldender oder Angreifer. Zieht er fort, so bewahrt
er die Freiheit, so steht es bei ihm, den Ort und die aufgedrängten Bedingungen
zu ändern. Wie soll er fortgehen und wohin? Du brauchst nicht zu lächeln, ich
weiß es: Wir können nirgendwohin. Aber manchmal können wir doch, und wir
schaffen uns einen Schein von Freiheit. Wir tun so, als gingen wir fort, wir
tun so, als veränderten wir uns. Und wir kehren wieder zurück, beruhigt,
tröstlich, getäuscht."
    Niemals wußte ich, wann seine Rede
sich ins Spöttische wenden würde. Hütete er sich vor bestimmten Behauptungen,
oder glaubte er an keine einzige bestimmte?
    „Darum also ziehst du immer von
neuem fort? Um dir den Schein von Freiheit zu bewahren? Heißt das, es gibt
keine Freiheit?"
    „Es gibt sie, und es gibt sie nicht.
Ich bewege mich im Kreise, ziehe fort und kehre wieder. Bin frei und
gebunden."
    „Soll ich dann also gehen, oder soll
ich bleiben? Denn es ist offenbar gleich. Bin ich gebunden, so bin ich nicht
frei. Ist die Wiederkehr das Ziel, wozu dann fortziehen?"
    „Aber darin liegt ja alles:
wiederkehren. Sich von einem Punkt auf der Erde fortsehnen, aufbrechen und von
neuem anlangen. Ohne diesen Punkt, an den du gebunden bist,
würdest du weder ihn noch die übrige Welt lieben, du hättest nichts, von wo du
fortziehen könntest, denn du wärst nirgends. Und du bist auch nirgends, wenn du
nur diesen Punkt hast. Denn dann denkst du nicht an ihn, dann sehnst du dich
nicht, dann liebst du nicht. Und das ist nicht gut. Du mußt denken, dich
sehnen, lieben. Also, rüste zum Aufbruch. Überlaß die Tekieh Hafiz Muhamed, befrei
du dich von ihnen und sie von dir, und sei bereit, dich auf

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