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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meša Selimović
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auf dem Dach und könnten nicht
unsere Lage bestimmen, die Unsicherheit mache uns irre. Wir drehten uns
zwischen Verzweiflung und dem Wunsch nach innerem Frieden und wüßten nicht, was
unser Teil sei. An einem bestimmten Punkte innehalten, uns nach einer bestimmten
Seite wenden, darauf komme es an, aber das sei schwer zu tun. Jeglicher
Entschluß, sofern er nur nicht unser Gewissen belasten werde, sei besser als
die Verzagtheit, die uns die Unentschlossenheit beschert. Freilich dürfe man
den Entschluß nicht drängen, man müsse ihm nur helfen, geboren zu werden, wenn
seine Zeit gekommen sei. Die Qual des Sich-Entscheidens könne von Freunden
erleichtert werden, aber nur erleichtert, keineswegs abgewendet. Wiederum
bedürfe es der Freunde wie der Hebamme bei einer Geburt. Auch das wisse ich
aus eigener Erfahrung. Als mir am schwersten zumute war, als ich glaubte, es
bleibe mir nichts anderes, als Hand an mich zu legen, da habe Gott mir Hasan geschickt,
daß er mich ermutige und mich aufrichte. Seine Aufmerksamkeit, seine Güte, doch
vielleicht dürfe ich sagen: und seine Liebe, hätten mir den Glauben an mich
selbst und an das Leben zurückgegeben. Die Zeichen dieser Aufmerksamkeit
könnten einem anderen unbedeutend erscheinen, für mich aber hätten sie
unschätzbaren Wert gehabt. Mein gehetztes, irres Suchen habe aufgehört, mein
Entsetzen habe sich gelegt, in dem Eis, das sich um mich geschlossen hatte,
hätte ich den warmen Hauch menschlicher Güte gespürrt, möge er, Mula Jusuf, mir
verzeihen, daß mich noch jetzt diese teure Erinnerung so aufwühle, aber eine
größere Wohltat als diese hätte mir im Leben nie jemand erwiesen. Ich sei
vereinsamt gewesen, von allen Menschen gemieden, verlassen in der öden Stille
meines Unglücks, damit das Unrecht auch ja bis zum letzten in mir sein Opfer
fände, ich sei nahe daran gewesen, an allem zu zweifeln, woran ich geglaubt
hatte, denn alles war zusammengebrochen und hatte mich verschüttet. Doch siehe,
zu wissen, daß es einen guten Menschen auf der Erde gebe, mochte er auch der
einzige sein, das genügte mir, das versöhnte mich mit den übrigen Menschen. Es
möge seltsam scheinen, meinte ich, daß ich dem, was er tat und was unter uns zu
tun üblich sein sollte, soviel Bedeutung beimäße und daß ich ihm so dankbar
sei. Ich hätte jedoch gesehen, daß es keineswegs üblich sei, so zu handeln, und
daß dies gerade ihn unter all den anderen Menschen heraushebe. Zudem hätte ich
mich ihm gegenüber schuldig gemacht, und seine Hilfe sei mir darum noch teurer
gewesen.
    Mula Jusuf hob den Kopf.
    Jawohl, schuldig. Ich hätte ihm
etwas Häßliches angetan, etwas sehr Häßliches. Es komme jetzt nicht darauf an,
was es gewesen und warum es geschehen sei. Ich könne Gründe finden, mich
vielleicht auch rechtfertigen, aber das sei nicht wichtig. Ich hätte seine
Freundschaft gebraucht wie die Luft zum Atmen, doch ich sei bereit gewesen, auf
sie zu verzichten, weil ich ihn nicht belügen konnte. Ich wünschte, er möge mir
verzeihen, doch er tat mehr – er schenkte mir noch größere Liebe.
    „Du hast ihm etwas Böses
angetan?" stieß Mula Jusuf mühsam hervor.
    „Ich habe ihn verraten."
    „Und hat er dich verachtet? Dich
verstoßen? Deinen Verrat kundgemacht?"
    „Ich hätte ihn darum nur geachtet.
Doch er lehrte mich abermals, daß eine wahrhaft edle Seele kein Feilschen
kennt. Er half mir doppelt und bereicherte mich doppelt. Ich sagte Hasan,
Menschen wie er seien ein wahrer Segen, ein Geschenk, das uns Gott selbst
schickt, und ich denke wirklich so. Mit einem rätselhaften Sinn spürt er den
auf, der Hilfe braucht, und er bietet sie ihm wie Arznei. Ein Zauberer, weil er
Mensch ist. Und nie verläßt er den, dem er geholfen hat, er ist ihm treuer als
ein Bruder. Das schönste ist, daß man seine Liebe nicht einmal zu verdienen
braucht. Müßte man sie erst verdienen, so hätte ich sie nicht gewonnen oder sie
längst wieder verloren. Er bewahrt sie allein, er verschenkt sie, keinen anderen
Grund suchend als das eigene Bedürfnis zu helfen, keinen anderen Lohn
verlangend, als daß er sich selbst darüber freut und daß der andere glücklich
ist." Ich hätte, fuhr ich fort, die Lehre angenommen, die er mir gegeben
habe: daß der Mensch gewinnt, wenn er gibt. Ich sei nicht mehr krank und
schwach, seine Liebe habe mich geheilt, habe mich fähig gemacht, selbst einem
anderen Stütze zu sein. Sie habe mich zur Liebe befähigt, ihm, Mula Jusuf,
würde ich sie geben, wenn sie

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