Der Derwisch und der Tod
Hilfe, das Gut sei groß, der
Aufseher besorge alles, die Frau aber wolle mit ihm nicht abrechnen, wolle
kein Geld annehmen, er behalte es für sich und gebe für die beiden Frauen soviel, daß sie am
Leben blieben, Gott aber wolle sie nicht zu sich nehmen, wolle ihr nicht das
Leid verkürzen. Ich log der Frau vor, einer meiner Freunde – auch er sei
gefallen – habe mir von ihrem Sohn erzählt, und darum sei ich nun zu ihr
gekommen, denn es scheine mir, als hätte auch ich ihn gekannt. Ich log, weil
ich nur so erwarten konnte, daß sie mit mir sprechen werde. Von ihrem Sohn,
natürlich. Jahrelang hatte sie geschwiegen, jahrelang auf den Tod gewartet,
jahrelang an ihn gedacht, hatte den Schmerz wie Gift getrunken, jetzt aber
konnte sie von ihm sprechen. Ich hatte sie wachgerufen. Ich dachte nicht mehr
an das, was ich am Anfang gesagt hatte, und log weiter, es war eine sehr
schwache, schwankende Lüge: Ich erzählte ihr von ihm, als kennte ich ihn. Aber
ich konnte ja gar nicht fehlgreifen. Sie merkte nicht einmal, daß ich noch ein
Kind gewesen war, als er fiel, vielleicht glaubte sie sogar, ihr Sohn sei viel
jünger als ich, denn in ihrer Vorstellung hatte er sich nicht verändert. Ich
sagte, er sei stattlich, klug, gütig und edelmütig gegenüber allen gewesen,
voll zärtlicher Liebe zu ihr, unter Tausenden hätte er sich hervorgetan. Ich
malte ihren Gedanken aus, konnte gar nicht übertreiben. Jedes Lob, das von mir
kam, war der Mutter zu schwach, ungenügend. Sie sprach leise, näselnd, aber
jedes Wort war, wenn es aus ihrem vertrockneten Mund kam, ein Kuß, ein
Streicheln, ein Liebkosen, es duftete nach Liebe, war eingepackt in die Watte
endlosen Erinnerns. Ich war ein Neuer, Unbekannter, mir galt es alles von ihm
zu erzählen, nun konnte sie sich schadlos halten für das beharrliche Schweigen.
Im Grunde aber und ihr selbst nicht recht bewußt, drängte es sie, mir zu
erklären, warum sie so sehr trauere, und dabei hörte sie auf zu trauern im
Erzählen, denn sie sah ihn als Vollendeten und doch Lebenden vor sich. Ich
glaube, das gelang ihr jetzt zum ersten Male vollkommen; war sie allein oder
mit Bekannten, so belebte sie das Vergangene nur so weit, daß sie einen Schatten
sah und doch wußte, er war tot. Jetzt vergaß sie den Tod, verdrängte in sich
alles außer der fernen Zeit, in der das Unglück noch nicht geschehen war. Ich
wußte, das würde nicht lange dauern, der Gedanke an den Tod würde sich wieder
einfinden, ich wartete darauf, daß er sie wie eine schwarze Wolke zudecke, ich
würde es an dem dunklen Schatten auf ihrem Gesicht erkennen, aber ganz gleich,
wenigstens für einen Augenblick war sie befreit. Von da an besuchte ich sie
immer, wenn ich durch jene Gegend kam, unterwegs zum Ziel meiner Reise oder auf
der Rückkehr, und die Frau fand immer neue Bilder in ihrem Gedächtnis, und der
Sohn wurde immer kleiner, immer jünger, immer derselbe und immer am Leben. Sie
behielt ihn in der Vergangenheit, trennte ihn von dem schwarzen Augenblick,
der ihr Dasein vernichtet hatte. Sie wartete auf den Tag solchen Auferstehens
wie auf ein Fest, wie auf den Bajram, tagelang traf sie Vorbereitungen, mich
zu empfangen, das große Zimmer wurde geheizt, wenn es Winter war, zum erstenmal
nach soviel Jahren, Speisen wurden hergerichtet, von denen sie nichts aß,
mottenzerfressene Matratzen wurden ausgebreitet, vergilbte Laken darübergelegt,
für mich, wenn ich mich doch bereitfände, ein paar Tage länger zu bleiben,
damit ich ihr die stille Feier verlängerte. Sie änderte nicht sehr ihre
Lebensweise, sie aß weiter nur schwarzes Roggenbrot und trank Wasser, sie
schlief weiter auf den nackten Brettern des Fußbodens, einen schwarzen Stein
auf der Brust, doch in ihren Augen lag nicht mehr einzig der Gedanke an den
Tod. Ich redete ihr zu und sie ging darauf ein, daß sie von dem Verwalter die rückständigen
Einnahmen von ihrem Gut verlange, daß sie von dem Geld für die Kinder des
Dorfes eine Glaubensschule bauen lasse und daß sie ihnen Unterstützung für
Essen und Kleidung gewähre, denn gewiß hätte das auch ihr Sohn getan. Sie ließ
eine Schule bauen, ließ einen Hodscha, einen Lehrer, kommen, half den armen
Bauern, daß ihre Kinder nicht nackt und hungrig in die Schule gehen mußten, tat
ein gutes Werk, erleichterte ihnen die Mühsal des Daseins."
„Und so nahm alles ein gutes Ende,
und alle waren glücklich, wie im Märchen" sagte ich, über Hasans
Geschichte spottend.
Ich hatte den Eindruck, daß
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