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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meša Selimović
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mit dem Nachtwächter und dem Bäckergesellen unterhalten.
Er eilte mir nach, und als er mich erreicht hatte, erklärte er mir, er sei
nicht in die Moschee gekommen, weil er das Morgengebet mit Alijaga und Hafiz
Muhamed gesprochen habe, dann aber hätten ihn diese beiden angehalten, sie
hätten ihm erzählt, in der vergangenen Nacht seien ein paar Gefangene –
Aufständische von der Posavina – aus der Festung geflohen.
    Drei Sejmenen hasteten durch die
Straßen, der Muselim hatte gewiß in dieser Nacht nicht geschlafen, auch der
Kadi nicht. Noch mancher außer mir hatte die Nacht schlaflos verbracht. Wir
waren von einander getrennt, aber das Schicksal hatte zwischen uns ein festes
Garn gesponnen. Für alles hatte es gesorgt, und jetzt bot es mir die Lösung, die
endgültige. Ich hatte gewartet, hatte gewußt, daß die Gelegenheit käme. Und da
ich sie nun sah, zitterten mir die Knie, meine Eingeweide verkrampften sich,
der Kopf fieberte, doch was ich gefaßt hatte, ließ ich nicht aus der Hand.
    An Haruns Grab blieben wir stehen.
Ich blickte auf den Stein, der mit dem Wachs abgebrannter Kerzen beträufelt
war, und sprach ein Gebet für die Seele meines Bruders.
    Auch Mula Jusuf hob die Hände und
flüsterte ein Gebet.
    „Ich sehe oft, wie du über diesem
Grab betest. Tust du es der Leute wegen oder deinetwegen?"
    „Nicht der Leute wegen."
    „Wenn es seinetwegen und deinetwegen
geschieht, bist du nicht ganz verdorben."
    „Alles gäbe
ich darum, daß ich's vergessen könnte."
    „Du hast uns sehr Böses angetan, ihm
und mir. Mir mehr als ihm, denn ich bin am Leben geblieben, um es nie zu
vergessen, um den Schmerz zu tragen. Weißt du das?"
    „Ja"
    Seine Stimme klang müde, sie schien
hinabgesunken in die Tiefe der Kehle.
    „Weißt du von meinen schlaflosen
Nächten, von der Finsternis, in die du mich gestoßen hast? Du hast mich dahin
gebracht, daß ich darauf sann, wie ich dich und das Böse in dir vernichten
könnte, ob ich dich dem Gesetz des Ordens überlassen oder dich mit eigenen
Händen erdrosseln sollte."
    „Du hättest recht gehandelt, Scheich
Ahmed."
    „Hätte ich gewußt, daß es recht
wäre, ich hätte es getan. Aber ich wußte es nicht, ich überließ alles Gott und
dir. Ich wußte freilich, daß es Menschen gibt, die größere Schuld tragen. Du
warst der Stein in ihrer Hand, die Falle, mit der sie Dumme zu fangen hofften.
Du hast mir leid getan. Vielleicht haben wir auch dir leid getan."
    „Ja, Scheich Ahmed, Gott ist mein
Zeuge, ich war voll Trauer und bin voll Trauer."
    „Warum?"
    „Das erstemal hat jemand meines
Gehorsams wegen so gelitten. Das erste Mal, von dem ich weiß."
    „Du sagst,
du bist voll Trauer. Ist das nur ein Wort?"
    „Nein,
nicht nur ein Wort. Ich glaubte, du würdest mich töten, nächtelang wartete
ich, lauschte auf deine Schritte, war sicher, daß dich der Haß in mein Zimmer
führen würde. Nicht einmal die Hand hätte ich gerührt, mich zu wehren, beim
Namen Gottes schwöre ich es dir, ich hätte den. Mund nicht geöffnet, um
jemanden zu rufen."
    „Hätte ich damals verlangt, daß du
etwas für mich tust, was hättest du gesagt?"
    „Ich hätte
es getan, alles."
    „Und
jetzt."
    „Auch
jetzt."
    „Dann frage ich dich: Wirst du alles
tun, wahrhaftig alles, was ich dir sage? Denk nach, bevor du antwortest. Wenn
du nicht willst, geh ruhig deines Weges, ich werde es dir nie vorwerfen. Aber
wenn du zusagst, darfst du nichts fragen. Es darf auch niemand wissen, nur du
und ich und Gott, der mir beistehe."
    „Ich werde
es tun."
    „Du antwortest zu schnell. Du hast
gar nicht nachgedacht. Vielleicht ist es nicht einfach."
    „Ich habe
längst nachgedacht."
    „Vielleicht
verlange ich, daß du jemanden tötest?"
    Er sah mich erschrocken, fassungslos
an, das Wort der Zustimmung war ihm allzu schnell entschlüpft, die Erinnerung
und dieses Grab hatten ihn zum Gehorchen gedrängt. Er hatte gesagt: alles; doch
das hatte er nach seinem Maß gemessen. Jetzt wollte er nicht zurück.
    „Wenn es
sein muß, auch das."
    „Noch kannst du zurück. Ich verlange
viel. Später gibt es kein Ausweichen."
    „Ganz gleich. Ich bin bereit. Was
dein Gewissen auf sich nehmen kann, mag auch meines auf sich nehmen."
    „Gut. Dann schwöre vor diesem Grab,
das deinetwegen gegraben wurde: Möge Allah mich zu den schlimmsten Qualen
verdammen, wenn ich jemandem etwas davon sage."
    Er
wiederholte es, ernsthaft und feierlich wie ein Gebet.
    „Hör zu,
Mula Jusuf, wenn du jemandem etwas sagst, jetzt

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