Der Derwisch und der Tod
oder später, oder wenn
du nicht tust, was ich sage, wenn du zum Verräter wirst, kann dich nichts
mehr retten. Dann werde ich gezwungen sein, mich zu wehren."
„Du wirst
dich gegen nichts wehren müssen. Was soll ich tun?"
„Geh zum Kadi, jetzt
sofort."
„Ich geh
nicht mehr zum Kadi. Gut, ich gehe."
„Sag ihm: Hadschi Jusuf Sinanudin
hat den Posavinern zur Flucht aus der Festung verholfen."
Die blauen Augen des Jünglings
weiteten sich vor Angst und Verblüffung. Es schien, als hätte es ihn weniger
überrascht, wenn ich ihm befohlen hätte, jemanden zu töten.
„Hast du
verstanden?"
„Ja."
„Wenn er fragt, wer es dir gesagt
hat, so antworte, du habest es zufällig gehört, von unbekannten Leuten in der
Herberge, oder jemand habe es dir im Dunkeln zugeflüstert, oder du kannst nicht
sagen, wer es war. Denk dir etwas aus. Über mich kein Wort. Auch dich sollen
sie nicht erwähnen. Es genügt, daß du ihnen den Namen schenkst."
„Es wird ihm schlecht ergehen."
„Ich habe dir gesagt, du sollst
nichts fragen. Es wird ihm nicht schlecht ergehen. Wir werden dafür sorgen, daß
ihm nichts geschieht. Hadschi Sinanudin ist mein Freund."
Er sah nicht klug aus, sein Gesicht
verriet grenzenlose Verwirrung. Umsonst mühte er sich, einen Sinn in allem zu
finden, was er gehört hatte.
„Geh."
Er stand noch immer.
„Und dann? Nachher?"
„Nichts. Komm in die Tekieh zurück.
Mehr ist nicht nötig. Paß auf, daß dich keiner zusammen mit dem Kadi
sieht."
Er ging fort wie ein Blinder, nicht
wissend, was er trug und welcher Sache er diente.
Ich hatte ihren eigenen Pfeil
abgeschnellt. Jemanden würde er treffen.
Ein gelbes geripptes Blatt fiel vom
Baum, dasselbe, das ich im Frühling berührt hatte, mir wünschend, daß mich sein
Saft durchströme, damit ich unempfindlich würde wie eine Pflanze, damit ich
jeden Herbst welkte und jeden Frühling neu aufblühte. Und siehe da, es geschah
anders, ich war im Frühling gewelkt und blühte nun im Herbst.
Es fängt an, Bruder Harun. Der
ersehnte Augenblick ist da.
14
Sprich: Gekommen ist die Wahrheit.
Ich konnte nach der Uhr schauen und mir genau
vorstellen: Jetzt ist Mula Jusuf beim Kadi, jetzt stehen die Sejmenen vor
Hadschi Sinanudins Laden, jetzt ist es geschehen. Ich rechnete ihre erworbenen
Gewohnheiten ein, ihr Gefühl der Sicherheit, ihre Gier nach Vergeltung und
Gewalt, darum wußte ich, ich hatte den Köder nicht umsonst ausgeworfen. Die erworbenen
Gewohnheiten drängen zur Wiederholung der Handlungen, das Gefühl der Sicherheit
schließt vernünftige Überlegung aus, Gier nach Vergeltung beschleunigt die
Entschlüsse. Wenn sie nichts unternähmen, müßte ich mit dem Untergang der Welt
rechnen.
Seltsamerweise aber blieb die
Čaršija ruhig, von ihr stieg die gewohnte Lärmwoge auf, in der sich
Wortfetzen, Pferdegetrappel, Hämmern, Schläge, Ausrufe unterscheiden ließen,
die Menschen arbeiteten Öder unterhielten sich, abgestumpft von der
Alltäglichkeit.
Sogar die Tauben spazierten
friedlich über das Pflaster.
Nichts hatte ich in Bewegung
gebracht. Was war geschehen? Wo lag der Fehler?
Hatte ich von den Menschen zuviel
erwartet? Würden sie in Schweigen verharren wie damals, als man mich
einsperrte? Hatte ich mich verrechnet, als ich den Köder auswarf, vielleicht
ging ihnen ein Licht auf? Hatten sie ihn von seinem Hause abgeholt, und diese
Menschen wußten es noch nicht, oder es war ihnen gleichgültig?
Aber das konnte nicht sein. Mit mir
war es etwas anderes, unser Orden läßt uns flußabwärts treiben, wenn uns ein
Unglück ereilt, denn wir sind unwichtige Teilchen eines mächtigen Ganzen,
hilflos, wenn wir verlassen sind. Hadschi Sinanudin aber bedeutete dasselbe wie
die Čaršija, wenn ihm etwas zustieß, würde jeder meinen, er selbst sei
bedroht. Auch sie sind ein ganzes, doch bei ihnen ist jeder für sich wichtig,
und die Gefahr, die einem droht, schwebt wie eine Wolke über allen.
Oder hatte ich voreilig gehandelt,
getrieben von der Ungeduld, die nicht berechnen mag?
Oder wagten sie nicht, den Schlag
gegen ihn zu führen?
Oder hatte mich Mula Jusuf betrogen?
Oder stand die ganze Welt kopf?
Langsam ging ich die Gasse entlang,
zwischen den aufgeklappten Verkaufstafeln hindurch, ich horchte auf das friedliche
Plätschern des Lebens, das ich niemals so schwer ertragen hatte.
Eben noch war ich zuversichtlich und
meiner Sache sicher gewesen, hatte die Ereignisse zu lenken vermeint und mich
über ihnen stehend gewähnt. Dinge und
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