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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meša Selimović
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Menschen waren mir kleiner erschienen,
während ich gleichsam über ihnen schwebte. Zum erstenmal hatte ich das erlebt,
dabei war mir das Gefühl solcher Überlegenheit ganz natürlich vorgekommen; solange
es anhielt, hatte ich es gar nicht recht beachtet, es hatte aus mir gestrahlt
wie eine Würze, wie eine Kraft, wie ein Recht, auf das ich gar nicht stolz zu
sein brauchte, weil es einfach zu mir gehörte, eine meiner Eigenschaften war.
Jetzt freilich schien mir das seltsam und schon fern; die Menschen und das
Leben lagen nicht unter mir, sondern ich sah sie um mich herum, sie blieben
verschlossen, verriegelt, wie eine Mauer ohne Durchlaß. Ich weiß nicht, ob es
Siege im Leben gibt, Niederlagen gibt es gewiß.
    Ich kann nicht bestimmen, wie lange
diese Niedergeschlagenheit anhielt, auch nicht, ob ich die Veränderung
sogleich bemerkte, als sie eintrat, oder ob die Sinne mich erst auf sie wiesen,
als es offenkundig wurde.
    Zuerst vernahm ich die Stille. In
dem Kreis um mich herum erstarben auf einmal die Stimmen, all das Schaben,
Klopfen, Stoßen hörte auf, und dann breitete sich das Schweigen weiter aus. Es
glich einer großen Bestürzung, einem Würgen in der Kehle. Das dauerte nur
einen Augenblick, und wie ungewöhnlich, wie schrecklich es auch sein mochte, so
als hörte in einem großen Körper das Blut auf zu kreisen, so wußte ich doch,
was geschehen war. Ich atmete auf.
    Ich habe mich nicht geirrt, Harun!
Viel Mühe hat es mich gekostet, aber ich habe die Menschen kennengelernt.
Darauf erhoben sich von neuem die Stimmen, nur anders als vorher, anders als
jeden Tag, dumpf und gefährlich, einem schweren Seufzer gleichend, einem
unterdrückten Zähneknirschen. Ich hörte in ihnen Überraschung, Furcht, Zorn,
ich hörte ein Gewittergrollen, das ein Unwetter, das den Weltuntergang
anzukündigen schien, ich hörte alles, was ich hören wollte.
    Wieder war es da, das Gefühl der
Leichtigkeit und Sicherheit.
    Die Leute der Čaršija machten
sich auf, ich war einer unter ihnen, ich nahm ihre Hitze und den scharfen
Geruch ihrer Körper wahr (das ist der Geruch der Überraschung, der Verblüffung
und des Zorns, der sich noch nicht entschieden hat; im Kampf riechen die Menschen
bittersüß, nach Blut), ich horchte auf die kaum verständlichen Fragen, die wie
Zaubersprüche waren, wie närrisches Gemurmel, wie das Glucksen aus der Tiefe
steigenden Wassers, wie ein unterirdisches Dröhnen, und gar nicht wichtig waren
die Worte, sondern dieses schlangenhafte Zischen und Züngeln, die dunklen
Bauchstimmen, die sie in etwas Unbekanntes und Gefährliches verwandelten, und
sie selber bemerkten das gar nicht mehr.
    Wir schoben uns durch die
Čaršija, alle in einer Richtung, den Kopf gegen etwas gereckt, was wir
erwarteten, vorwärts, mit den Schultern einander berührend, eingepreßt,
einander nicht mehr sehend, die Schwächeren hinausdrängend, und trotzdem
wurden unser immer mehr: sich voneinander nicht unterscheidend, in eine
Mehrzahl verwandelt, umgeschmolzen in Furcht und Kraft dieser Mehrzahl. Mit
Mühe wiederstand ich dem merkwürdigen und mächtigen Bedürfnis, ein
vernunftloses, rasendes Teilchen zu sein, ich hörte mein eigenes
Zähneknirschen und spürte, wie ich teilhatte an dem Taumel angesichts einer
Gefahr, die auch mir drohte. Ich schürte mein Überlegenheitsgefühl, damit ich
nicht dem uralten Bedürfnis erläge, mit dem bedrohten Stamm vorwärtszustürmen.
    Hadschi Sinanudins Laden stand weit
offen, und niemand war da.
    Wir rannten in eine andere Gasse, in
eine dritte, und in der Seidenwebergasse stieß unser Zug auf eine
stillstehende Menge und hielt inne. Ich drängte mich mit Mühe nach vorn.
    Mitten auf der Gasse, in dem freien
Raum zwischen den Menschen, die zu beiden Seiten standen, und denen, die weiter
vorn den Weg versperrten, jetzt aber auseinandertraten, führten Sejmenen
Hadschi Sinanudin ab. Ich schob mich, mit Schultern und Ellbogen drängend, noch
vor die Vordersten, die von der Angst zurückgehalten wurden. Nicht mehr einer
von vielen konnte ich sein, mein Augenblick war gekommen.
    Ich trat in den freien Raum,
aufgeregt, wohl wissend, daß hunderte heiße Augen auf mich blickten, und
schritt auf die Sejmenen zu.
    „Halt!" schrie ich.
    Die Menge verschloß die Gasse.
    Die Sejmenen blieben stehen und
sahen mich verwundert an. Auch Hadschi Sinanudin sah mich an. Sein Gesicht
blieb ruhig, ich glaube, er lächelte, als Freund, oder ich
wünschte, daß es so sei, daß er mich ermutige in meiner

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