Der Derwisch und der Tod
hören, morgen oder am Nachmittag; es war nur saftiger, als ich
angenommen hatte. Er richtete sich im Bett auf, gelb, mager, mit spitzem
Gesicht, und schimpfte, drohte, fluchte, und auch ich hätte ihnen, meinte er,
alles ins Gesicht sagen, ihnen Vater und Mutter beschimpfen sollen, wenn das
auch immerhin für mich nicht eben passend sei, wegen meines Standes und Ranges,
aber ganz gleich, ich hätte mich ordentlich benommen, alle Achtung, und ihnen
das gesagt, was ein anständiger Mensch über einen anderen anständigen Menschen
sagen muß.
Ich stand und ließ den Wortschwall
über mich ergehen, er würde sich selber in Hitze und Aufregung reden, mochte er
nur, und ich dachte daran, wie doch alle sich um Hadschi Sinanudin sorgten, wie
erregt und verletzt sie waren, keiner aber hatte Kummer oder Zorn gezeigt, als
sie mich abführten, keiner hatte gesagt, was ein anständiger Mensch über einen
anderen anständigen Menschen sagen muß. Wer war nicht anständig, ich oder sie?
Vielleicht sollte man auch gar nicht von Anstand sprechen, für jeden ist das
anständig, was ihn selbst betrifft. Ich aber gehörte nicht zu ihnen, ich
gehörte zu niemandem und mußte alles allein vollbringen. Allein, so wie
damals, diesmal aber würden sie meine Armee sein, und mich würden sie zu nichts
verpflichten. Ich gehörte nicht zu ihnen, und sie gingen mich nichts an. Ich
ließ einen von ihnen flußabwärts treiben, sie würden ihn herausholen, ohne zu
wissen, daß sie für mich arbeiteten. Und für die Gerechtigkeit, denn ich stand
auf der Gottesseite, mochten auch sie da stehen, ob sie's wußten oder nicht.
Es sei meine Pflicht gewesen, das zu
tun (so sprach ich zu dem Alten, meine Tat verkleinernd), und es werde meine
Pflicht sein, noch mehr zu tun. Wenn wir nicht die Gerechtigkeit verteidigen
könnten, werde es keine Gerechtigkeit geben. Ich wolle mich nicht gegen die
Obrigkeit auflehnen, aber die Strafe Gottes würde mich ereilen, wenn ich es
versäumte, meine Stimme gegen die Feinde des Glaubens zu erheben, das aber sei
jeder, der die Grundlagen des Glaubens zerstört. Wenn wir ihnen nicht wehrten,
würde unsere Angst sie ermutigen, und sie würden immer größeres Übel tun, uns
ebenso wie das göttliche Gebot verachtend. Und könnten wir, dürften wir das
zulassen?
Er wisse nicht viel von den Feinden
des Glaubens, erwiderte Alijaga, aber wir dürften nicht zulassen, daß gute
Menschen Opfer der Gewalttätigkeit würden. Wir seien auch selbst schuld, denn
wir hätten nichts dagegen getan, daß uns nun alles mögliche Spitzbuben- und
Räubergesindel mit Füßen trete. Wir hätten uns erhaben gefühlt, es hätte uns
unberührt gelassen, und da seien sie stark und mächtig geworden und hätten
vergessen, wer sie sind. Aber sie sollten nur abwarten, das letzte Wort sei
noch nicht gesprochen.
„Schick jemanden nach dem
Kadi", befahl er mir, alle Rücksicht vergessend, so wie jeder, dem
Reichtum das Recht verleiht, über den Menschen zu herrschen.
Ich hatte von vornherein damit
gerechnet, daß er das sagen würde, ich hatte es gefürchtet, denn ich wußte
nicht, was der Kadi tun könnte. Würde er abweisend bleiben, wäre das gut,
er würde den Alten und die Čaršija noch mehr in Wut bringen. Würde er sich
aber zugänglich zeigen – weil ihn der Alte vielleicht unter Druck
setzte oder ihm Vorteile verspräche – und ließe er Hadschi Sinanudin frei, so
würde alles kläglich enden, noch ehe es begonnen hatte. Daher widersetzte ich
mich Alijaga – wegen dieser winzigen Möglichkeit, die mich lächerlich machen
würde. Es bliebe mir dann nur das hoffnungslose Warten auf eine andere
Gelegenheit.
So fragte
ich ihn ruhig, von meinem Argument überzeugt:
„Wozu brauchst du den Kadi?
Wichtiger als alles, was du ihm bieten oder womit du ihm drohen könntest, ist
ihm seine Sicherheit. Ließe er Hadschi Sinanudin frei, so beschuldigt er sich
selbst."
„Was willst du? Daß wir warten, die
Hände in den Schoß legen? Trauergebete sprechen?"
„Man muß einen Brief nach Stambul
schicken, an Mustafa, Hadschi Sinanudins Sohn; mag er das seine tun, den Vater
zu retten."
„Bis der Brief ankommt, ist es zu
spät. Wir müssen ihn eher herausholen."
„Tun wir beides. Wenn wir ihn schon
nicht retten, mögen die Schuldigen dann wenigstens der Strafe nicht
entgehen."
Er sah mich unsicher an, offenbar
betroffen von dem Gedanken, daß sein Freund umkommen könnte.
„Ein redlicher Mensch wie er, er hat
doch gar nichts Böses tun können.
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