Der Derwisch und der Tod
gleiche, in allen kleinen und großen Verfolgungen, die nicht
aufhören. Ich stand weder auf der einen noch auf der anderen Seite, meine
Stellung aber war außerordentlich wichtig. Es wühlte mich auf, daß ich Richter
werden und mit einem einzigen lauten Wort alles entscheiden konnte. Das Schicksal
dieses Menschen lag in meinen Händen, ich war sein Schicksal, nie hatte ich in
meinen möglichen Handlungen soviel Macht gefunden. Ich verriet ihn nicht,
dabei hätte ihn ein unschuldiger Gruß oder ein leises Räuspern verderben
können, und daß ich ihn nicht verriet, geschah nicht deshalb, weil mich seine
Augen, die ich von meinem Platz aus nicht einmal
gut sehen konnte, gewiß um Gnade anflehten, auch deshalb nicht, weil es
ungerecht gewesen wäre, sondern deshalb, weil ich das Spiel verlängert sehen
wollte, damit ich, erschreckt und gepackt, Zuschauer und Zeuge sein konnte.
Die Verfolger kehrten zurück, nicht
mehr rennend, sondern gehend, verwirrt, wütend, weil nun alles
durcheinanderging, jetzt waren sie nicht mehr nur Verfolger, sondern auch
Schuldige, denn seine Flucht bedeutete für sie Verurteilung. Hier ließ sich
nichts mehr friedlich entscheiden, es mußte einen üblen Ausgang nehmen, so oder
so.
Wir schwiegen, wir alle, die wir in
das Spiel verwickelt waren, ich, der Gejagte und die Verfolger. Nur die Männer
von der Albanerwache, am Schlagbaum im Hohlweg, sangen ein schwermütiges Lied
aus ihrer Heimat, und dieser fremde, klagende Gesang, der einem wilden
Schluchzen glich, machte unser Schweigen noch drückender.
Die Schritte näherten sich, jetzt
unentschlossen, nicht mehr so laut, ich horchte auf sie, im Innersten gespannt,
ein wenig Verfolger, ein wenig Gejagter, denn ich war weder das eine noch das
andere, leidenschaftlich wünschte ich, er möge gefaßt werden und er möge
entkommen, seltsam mischten sich in mir die Angst um den Gejagten und der
Wunsch, laut zu rufen, wo er sei, und das alles verwandelte sich in einen
quälenden Genuß.
Die Verfolger hielten vor der Tür
inne, ich hörte auf zu atmen, mit vor Ungeduld fliegenden Pulsen durchlebte ich
diesen Augenblick, der auch mein Schicksal entscheiden mochte.
Gewiß atmete auch der Gejagte nicht,
nur dünne Bretter trennten ihn von den Verfolgern, kein fußbreit Raum lag
zwischen ihnen, und doch waren sie weit auseinander, wie durch ein Gebirge
getrennt – durch das Nichtwissen der Verfolger, durch die Hoffnung des
Gejagten. Die Arme hielt er noch ausgebreitet, über sein Gesicht aber lief ein
phosphornes Zucken. In der Aufregung begannen sich vor meinen Augen die Umrisse
seiner Arme und Beine zu trüben, der weiße Fleck des Gesichts aber blieb als
Mal seines Entsetzens.
Würden die Verfolger das Tor öffnen
und eindringen? Würden seine Füße auf dem glatten Stein ausgleiten und sie
aufmerksam machen? Würde ich mich vor Aufregung räuspern und sie damit
herbeirufen? Nur einen Augenblick würde er sich dagegenstemmen, zwei
Verzweiflungen würden miteinander kämpfen, doch ihrer waren es mehr, und sie
würden einander Aug in Auge gegenüberstehen. Für ihn wäre es das Ende, sie
würden sich auf ihn stürzen, grausam in ihrer Angst, im Zorn darüber, daß sie
ihn verloren hatten, und in ihrem Glück, ihn gefunden zu haben. Ich würde
zusehen, voll Ekel die Lösung erwartend, und würde nur bitten, daß sie aus dem
Tekiehgarten hinausgingen. In diesem Augenblick jedoch fühlte ich mich als der
Gejagte, zufällig, denn es konnte geschehen, daß ich auch dachte wie die
Verfolger, vielleicht aber auch nicht so zufällig. Ihn, ihn sah ich, und ich
wünschte, daß die unsichtbaren Menschen vor dem Tor weggingen, damit ich nicht das
häßliche Ende zu sehen brauchte. Es kam mir vor, als könne dieser mein Wunsch
dem Manne helfen, der so ohnmächtig um sein Leben kämpfte, als könne mein
Wunsch ihm Glück bringen.
Und in der Tat, mein angespannter
Wille schien zu wirken, die Schritte entfernten sich vom Tor, hielten dann
zögernd inne, einer von ihnen meinte wohl, man hätte es doch versuchen sollen,
noch konnten sie umkehren, aber sie taten es nicht, sie gingen weiter die
Gasse hinunter, zur Stadt.
Der Mann stand noch in derselben
Haltung, aber die Starre seiner Muskeln hatte gewiß nachgelassen, und je
weiter sich die Schritte entfernten, desto mehr sanken ihm die Kräfte.
Gut war es, daß es so endete. Hätten
sie ihn gefaßt oder vor mir niedergeschlagen, so wäre mir das grausame Bild
lange im Gedächtnis geblieben, es hätte sich auch
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