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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meša Selimović
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Reue einstellen können, weil
ich einen Augenblick lang bereit gewesen war, ihn preiszugeben, und weil ich
bei dieser Menschenjagd einen Genuß, einen schmerzlichen zwar, doch einen
Genuß empfunden hatte. Da die Sache so endete, würde die Reue, sollte sie sich
einstellen, schwächer sein.
    Ich dachte nicht daran, wer schuldig
und wer im Recht sei, es ging mich ja auch nichts an, die Menschen beglichen
ihre Rechnungen, und Schuld findet sich leicht, im Recht sein aber heißt das
Recht haben, das zu tun, wovon wir meinen, daß es getan werden muß, und dann
kann Recht alles sein. Auch Unrecht kann dann alles sein. Solange ich nichts
weiß, kann ich es auch nicht bestimmen, und ich werde mich nicht einmischen.
Zwar hatte ich mich schon eingemischt, durch mein Schweigen, doch das ist eine
Einmischung, die mich nicht widerlegt, denn immer kann ich mich mit dem Grund
rechtfertigen, der mir der passendste ist, wenn ich die Wahrheit erfahre.
    Ich ging auf die Tekieh zu, den Mann
sich selbst überlassend, jetzt konnte er tun, was er wollte. Die Jagd war
vorüber, mochte er seines Weges gehen. Ich blickte vor mich hin, auf den Sand
des Pfades und die grünen Grasränder, um ihn auszuschließen, um auch jene
dünnen Fäden abzureißen, die ihn noch einen Augenblick vorher mit mir verbunden
hatten, damit er das bleibe, was er war: ein Unbekannter, mit dem sich weder
mein Blick noch mein Weg kreuzte. Aber auch ohne hinzublicken, sah ich die
Weiße seines Hemdes und die Blässe des Gesichts, vielleicht war es nur
Vorstellung, nach dem Bild in meinem Gedächtnis, ich sah, daß er die Arme
sinken ließ, die Beine zusammendrückte, er war nicht mehr gespannt, nicht mehr
zu einem Bündel zitternder Nerven verknotet, die nur für den Augenblick leben,
der über Leben oder Tod entscheidet, jetzt vielmehr ein Mensch, der von
augenblicklicher Qual entlastet ist, damit er frei sei, an das zu denken, was
ihm bevorsteht. Denn ich wußte, nichts war entschieden zwischen ihm und denen,
die ihn jagten, es war nur verlängert, aufgeschoben auf
unbestimmte Zeit, vielleicht nur bis zur nächsten Stunde, denn er war
verurteilt zu fliehen, und sie, ihn zu fangen. Dann plötzlich vermeinte ich zu
sehen, daß er den Arm hob, unentschlossen, ihn kaum vom Körper lösend, als
wolle er mich zurückhalten, mir etwas sagen, mich überreden, daß ich mich in
sein Schicksal einmische. Ich weiß nicht, ob ich es sah und ob er es wirklich
tat oder ob ich nur eine Bewegung erriet, die er hätte machen können, die er
machen mußte. Ich blieb nicht stehen, ich wollte nichts mehr damit zu tun
haben. Ich trat in die Tekieh und drehte den Schlüssel im verrosteten Schloß.
    Im Zimmer hörte ich
noch das knirschende Geräusch, mit dem ich mich loslöste. Für ihn war es
Befreiung, vielleicht auch größere Furcht, die endgültige Einsamkeit.
    Ich fühlte das
Bedürfnis, ein Buch zu nehmen, den Koran oder ein anderes, über Moral, über
große Menschen, über heilige Tage, beruhigen würde mich die Musik vertrauter
Sätze, an die ich glaube, über die ich gar nicht mehr nachdenke, die in mir
sind wie das kreisende Blut. Wir sind uns dessen nicht bewußt, doch es ist uns
alles, ermöglicht uns zu leben und zu atmen, hält uns aufrecht, gibt allem
seinen Sinn. Immer hat mich wunderbarerweise diese Folge schöner Worte über
wohlbekannte Dinge sanft in Ruhe gewiegt. In diesem vertrauten Kreise, in dem
ich mich bewegte, fühlte ich mich sicher, nicht gefährdet von Hinterhalten, mit
denen Welt und Menschen drohen.
    Nur, es war nicht
recht, daß ich irgendein Buch nehmen wollte, daß ich den Schutz vertrauter
Gedanken suchte. Wovor fürchtete ich mich? Wovor wollte ich fliehen?
    Ich wußte doch,
jener Mann war noch unten, im Garten, hätte er das Tor geöffnet, ich hätte es
gehört. Ich zündete keine Kerze an, ich stand im gelblichen Dämmer des Zimmers,
die Füße im Mondlicht, und wartete. Worauf wartete ich?
    Er war noch unten,
darin lag alles. Es genügte doch, daß die Tekieh ihn gerettet hatte, jetzt
mußte er gehen. Warum ging er nicht fort?
    Im Zimmer roch es
nach altem Holz, nach altem Leder, nach altem Atem, die Schatten, die manchmal
durch den Raum glitten, waren nur die schon toter junger Mädchen, an sie war
ich gewöhnt, sie hatten vor meiner Zeit hier gewohnt. Jetzt aber hatte sich in
dieser alten Welt, in diesem alten Unterschlupf ein neuer, unbekannter Mensch
eingenistet, mit dem weißen Fleck des Gesichts, mit den starrenden Asten der
Beine und der

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