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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meša Selimović
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Arme, die er sich, in der Qual, gleichsam selbst ausgebreitet an
die Tür geschlagen hatte. Ich wußte, er hatte seine Haltung verändert, ich
hatte gesehen, wie sein Körper erschlafft war, als wäre plötzlich das ganze Gefüge
der Knochen zusammengebrochen, und das war neuer, wichtiger, schmerzlicher,
während ich den Krampf und die Anstrengung im Gedächtnis behielt, die er vorher
gezeigt hatte, eine Spannung, die lebt, kämpft, sich nicht ergibt, ich dachte
an die gespannten Federn seiner Muskeln, wohl Wunder zu wirken vermochten.
Dieses Bild war mir lieber als das andere, das kraftlose. Das erste gab mir
mehr Hoffnung, es konnte mich eher entlasten, versprach mir, daß er sich auf
seine eigene Kraft verlassen würde. Das spätere bedeutete Abhängigkeit,
Mutlosigkeit, Bedürfnis nach einer Stütze. Ich erinnerte mich seiner Gebärde,
die ich gesehen oder nicht gesehen hatte und mit der er meine Augen zu den
seinen hatte wenden wollen. Er hatte mich gerufen, hatte mich gebeten, nicht an
ihm und seiner Angst vorbeizugehen, als berührten sie mich überhaupt nicht.
Hatte er das nicht getan, hatte ich mir diese unvermeidliche Gebärde des
Lebens, das sich wehrt und um Hilfe fleht, nur vorgestellt, dann war er ganz
ohne Kraft und jetzt auch ohne Hoffnung zurückgeblieben. Schade, daß ich nichts
von dem Manne wußte. Wäre er schuldig, so würde ich nicht an ihn denken.
    Ich trat ans Fenster und erschrak
vor dem Mondlicht, das mich ins Gesicht traf. Als wollte es mich verraten. Ich
blickte schräg hinaus, er stand nicht mehr am Tor, er war weggegangen. Jetzt
blickte ich mutiger in den Garten, in der Erwartung, ihn leer zu finden. Doch
der Mann war nicht gegangen. Er stand unter einem Baum, im Schatten, an den Stamm
gepreßt. Ich bemerkte ihn, als er sich rührte, seine Beine waren im Mondlicht,
die Schattenlinie schnitt sie über den Knien.
    Er blickte nicht
zum Haus, nicht zum Fenster, von mir erwartete er nichts mehr. Er lauschte zur
Gasse hin, gewiß hörte er sogar eine Katze auftreten, einen Vogel sich
plustern, sich selbst ganz leise atmen. Er richtete die Augen zur Baumkrone
hinauf, und ich folgte seinem Blick – ganz sacht neigte sie sich, bewegt
vom mitternächtlichen Wind. Ob er sie bat, still zu bleiben, oder ob er das
Rascheln ihrer Blätter verwünschte? Denn er konnte nun nicht mehr die Geräusche
unterscheiden, die von draußen, außerhalb der Tekiehmauer, kamen und die für
ihn kostbar wie das Leben sein konnten.
    Er drehte sich um
den Baum, den Rücken weiter am Stamm, die silbrig übergossenen Beine im Kreise
bewegend, dann löste er sich von dem Baum, trat mit unhörbarem, gleichsam
schwerelosem Schritt ans Hoftor und legte behutsam den Riegel vor. Darauf
kehrte er zurück, ging, im Schatten der Bäume sich versteckend, bis zum
Geländer, neigte sich über den Fluß, blickte hinauf zur Felsenrinne und hinab
zur Stadt, dann zog er sich zurück und verschwand in dichtem Gebüsch. Hatte er
etwas gehört oder gesehen, oder wagte er sich nicht hinaus, oder wußte er
nicht, wohin?
    Gern hätte ich gewußt, ob er
schuldig sei.
    Da war ich also an ihm
vorbeigegangen, den Blick zur Erde gesenkt, hatte die Tekiehtür verriegelt,
mich in meinem Zimmer eingeschlossen und mich dennoch nicht von dem Manne
gelöst, der in diese Welt eingebrochen war, der mich gezwungen hatte, an ihn zu
denken und, während ich am Fenster stand, seine Angst zu beobachten. Er hatte
bewirkt, daß ich vergaß, an fremde Sünde in dieser Georgsnacht, an den Anfang
von allem, an die beiden Händewesen im
Dämmerlicht und an meine Sorgen zu denken. Vielleicht geschah es gerade
ihretwegen.
    Es wäre nötig gewesen, dem Fenster
den Rücken zuzukehren, eine Kerze anzuzünden, ins andere Zimmer zu gehen, wenn
ich nicht wollte, daß ihn das erleuchtete Fenster
unnötig quälte, irgend etwas hätte ich tun müssen, nur nicht das, was ich tat.
Denn das bedeutete Gebundensein, schmerzliches Teilnehmen, innere
Unentschlossenheit. Als traute ich nicht mehr mir selbst und meinem Gewissen.
    Solches Verstecken war kindisch oder
noch schlimmer: feige, vor nichts brauchte ich mich zu fürchten, auch nicht vor
mir selbst. Warum tat ich so, als sähe
ich den Mann nicht, warum gab ich ihm Gelegenheit, wegzugehen, obgleich er das nicht wollte, warum
verstellte ich mich, als wäre ich nicht sicher, daß er sich noch im
Tekiehgarten befand, um eine böse Tat zu verbergen oder vor ihr zu fliehen?
Etwas ging vor, etwas keineswegs Unschuldiges, ich wußte

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