Der Derwisch und der Tod
niemand
mehr die Hand zu reichen wagte, daß es keinen Verwandten, keinen Freund, keinen
Bekannten gab, daß er verurteilt war, allein im Unglück zu sein. Um ihn und
seine Verfolger blieb ein leerer Raum.
„Du denkst
sicher, ich sei ein schlechter Mensch."
„Ich denke
es nicht."
„Ich bin's
auch nicht. Aber ich kann dir nicht helfen."
„Das weiß
jeder selbst."
Auch das war weder Vorwurf noch
Aussöhnung mit dem Unglück, sondern Hinnahme des Bestehenden, Ausdruck des
uralten bitteren Wissens darum, daß die Menschen in keiner Weise frei und
bereit sind, einem Verurteilten zu helfen, was er auf alle Menschen bezog, auch
auf mich, und worüber er sich nicht wunderte. Das brach ihn nicht, das nahm ihm
nicht die Kraft, darum blickte er nicht gehetzt und verzweifelt um sich,
sondern ganz gesammelt, sehr bestimmt, voll Entschlossenheit, allein zu kämpfen.
Ich fragte ihn, warum sie ihn
jagten. Er antwortete nicht.
„Wie bist du geflohen?"
„Eine Felswand
heruntergesprungen."
„Hast du jemanden getötet?"
„Nein."
„Hast du gestohlen, geraubt, etwas
Schändliches getan?"
„Nein."
Er hatte es nicht eilig, sich zu
rechtfertigen, gab sich keine Mühe, mich zu überzeugen, antwortete auf meine
Fragen, als wären sie überflüssig und lästig, beurteilte mich nicht mehr nach
Gut oder Böse, schätzte mich weder als Gefahr noch als Hoffnung: Ich hatte ihn
nicht verraten und würde ihm nicht helfen. Daß er mich so überging, als wäre
ich ein Baum, ein Strauch oder ein Kind, traf seltsamerweise meine Eitelkeit,
es machte mich kleiner, wollte mir den Charakter nehmen und den Wert, nicht nur
in seinen, sondern auch in meinen eigenen Augen. Er ging mich nichts an, ich
wußte nichts von ihm, ich würde ihn nie wiedersehen, und doch lag mir an dem,
was er über mich dachte, es kränkte mich, daß er sich verhielt, als ob ich gar
nicht da wäre. Lieber wäre mir's gewesen, er hätte sich erzürnt.
Ich wollte nicht weiter auf ihn
achten, aber seine Unabhängigkeit gab mir keine Ruhe.
So stand ich und stand, im Duft des
Paradiesbaumes, der mich ersticken wollte, in der Georgsnacht, die ihr eigenes
Leben hat, in dem Garten, der eine Welt für sich geworden war. Wir standen
einander gegenüber, Aug in Aug ohne Freude darüber, daß wir uns getroffen
hatten, ohne die Möglichkeit, auseinanderzugehen, als hätten wir uns nicht getroffen.
Qualvoll dachte ich darüber nach, was ich mit ihm, der sich in Gezweig verwandelt hatte, beginnen
solle, damit ich nichts Böses täte, damit ich mich nicht schützend vor fremde
Sünde stellte, wobei ich freilich nicht wußte, was für eine Sünde das sei,
weil ich mein Gewissen nicht verletzen wollte – und ich fand keine Lösung.
Eine wunderliche Nacht war das,
nicht nur wegen der Dinge, die geschahen, sondern auch wegen der Art, wie ich
sie aufnahm. Die Vernunft sagte mir, ich solle mich nicht in etwas einmischen,
was mich nichts angehe, und dabei hatte ich mich so
sehr eingemischt, daß ich keinen Ausweg sah. Die in langen Jahren erworbene
Gewohnheit, mich zu beherrschen, hatte mich in mein Zimmer geführt,
aber ich war zurückgekehrt, getrieben von einem neuen Bedürfnis. Die
Lebensregeln der Tekieh, der Derwische hatten mich gelehrt, hart zu bleiben,
und doch stand ich vor dem Flüchtling, nicht wissend, was ich tun
solle, das aber bedeutete schon, daß ich das tat, was ich nicht hätte tun
sollen. Alle Gründe sprachen dafür, daß ich den Mann seinem Schicksal überlassen
müsse, und dabei wandelte ich schon mit ihm auf seinem rutschigen und
gefahrvollen Pfad, der nicht auch meiner sein konnte.
Und während ich noch darüber
nachdachte, das passende Wort für meinen Rückzug suchend, sagte ich plötzlich:
„In die Tekieh kann ich dich nicht mitnehmen. Es wäre gefährlich, ebenso für
mich wie für dich."
Er antwortete nicht, sah mich nicht
an, ich hatte ihm nichts Neues gesagt. Noch hatte ich Gelegenheit, mich
zurückzuziehen, aber ich war schon im Gleiten und hätte mich schwerlich wieder
fangen können.
„Ganz tief im Garten steht ein
Häuschen", flüsterte ich, „keiner kommt dorthin. Wir heben dort unnötigen
Kram auf."
Da sah mich der Flüchtling an. Seine
Augen waren lebhaft, mißtrauisch, aber gar nicht ängstlich.
„Versteck dich dort, bis sie weg
sind. Wenn sie dich fassen, sag nicht, daß ich dir geholfen habe."
„Sie werden
mich nicht fassen."
Das sprach er mit solcher
Sicherheit, daß mich schwindelte. Abermals spürte ich jene ängstliche
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