Der Derwisch und der Tod
doch, daß
ständig schlimme und grausame Dinge geschahen, dies aber war vor meinen Augen,
ich konnte es nicht zurückdrängen ins Nichtgewußte und
Nichtgesehene wie alles übrige, und ich wollte weder Schuldiger noch
unfreiwilliger Mittäter sein, ich wollte frei entscheiden.
Ich stieg hinunter in den Garten,
der Mond strahlte am Himmelsrand, bald würde er untergehen, der Paradiesbaum
begann zu blühen, die Luft war erstickend von ihm erfüllt,
fällen mußte man ihn, er war aufdringlich, widerlich. Manchmal bin ich allzu
empfindlich gegenüber Gerüchen, die ganze Erde riecht unerträglich, sie nimmt
mir den Atem, das kommt immer unverhofft, mit einer Aufregung offenbar, wenn
ich auch nicht weiß, was für Wechselbeziehungen es da geben kann.
Er stand in dichtem Strauchwerk, ich
hätte ihn nicht gefunden, wenn ich nicht gewußt hätte, wo er sein mußte, sein
Gesicht ließ keine Züge erkennen, es war ausgelöscht vom
Halbschatten, mich sah er besser, das Licht enthüllte mich, ich fühlte mich
beinahe nackt und konnte mich nicht verstecken, er hatte sich in Gestrüpp
verwandelt, war zu Ast und Zweig geworden, gleich würde er beginnen, sich im
Nachtwind zu neigen, der durch die Felsenenge vom Gebirge herabwehte.
„Du mußt
fort", flüsterte ich ihm zu.
„Wohin?" Seine Stimme war fest,
tief, als wäre er nicht der kleine Mensch, der vor mir stand.
„Fort von
hier. Ganz gleich, wohin."
„Ich danke
dir, daß du mich nicht verraten hast."
„Ich will mich nicht in fremde
Angelegenheiten mischen, deshalb wünsche ich, daß du gehst."
„Wenn du
mich verjagst, hast du dich eingemischt."
„Vielleicht
wäre es das beste."
„Zuerst hast du mir geholfen. Warum
willst du das jetzt verderben? Eine gute Erinnerung könnte dir später einmal
nützen."
„Ich weiß nichts von dir."
„Alles weißt du von mir. Sie jagen
mich."
„Sicher hast du etwas Böses
getan."
„Nichts Böses habe ich getan."
„Wie denkst du dir das jetzt? Du
kannst nicht hierbleiben."
„Sieh mal nach, ist ein Wächter auf
der Brücke?"
„Ja"
„Sie lauern auf mich. Überall
ringsum. Willst du mich in den Tod schicken?"
„Die Derwische stehen früh auf, sie
werden dich sehen."
„Versteck mich bis morgen
abend."
„Fremde könnten dich finden. Leute,
die zufällig hierherkommen."
„Auch ich bin einer, der zufällig
hierherkommt."
„Ich kann nicht."
„Dann ruf die Wächter. Sie sind da,
gleich hinter der Mauer."
„Ich werde sie nicht rufen. Und ich
werde dich nicht verstecken. Warum sollte ich dir helfen?"
„Du hast keinen Grund. Darum
verschwinde, dies hier geht dich nichts an."
„Ich hätte dich verderben
können."
„Nicht einmal dazu reichte deine
Kraft."
Er verwirrte mich, auf ein solches
Gespräch war ich nicht vorbereitet. Am meisten überraschte mich, je weiter er
sprach, der Umstand, daß ich erwartet hatte, einem ganz anderen Menschen
gegenüberzutreten. Das Bild der ausgebreiteten, an die Tür gepreßten Arme und
der auseinandergesetzten Beine hatte mich getäuscht. Der klägliche Anblick,
der weiße Fleck des Gesichts, der schwache Versuch, die dünnen Bretter der Tür
nicht eindrücken zu lassen, hatten bewirkt, daß ich ihn mir als einen armseligen,
verängstigten, verlorenen Menschen vorstellte, ich hatte sogar zu wissen
vermeint, wie seine Stimme sei: zitternd, unsicher – doch alles war anders. Ich
hatte geglaubt, ein einziges Wort von mir würde ihn gefügig machen, er würde
untertänig auf mich blicken, weil er sich in einer ausweglosen Lage befand,
weil er von meinem bösen oder guten Willen abhing. Seine Stimme aber war
ruhig, nicht einmal zornig, es schien mir, als klinge sie beinahe heiter,
spöttisch, herausfordernd, als antworte er weder mürrisch noch untertänig,
sondern gleichmütig. Der Mann schien über allem zu stehen, was geschah, und
etwas zu wissen, was ihm Sicherheit gab. So sehr widersprach er meinen
Erwartungen, daß ich mir gewiß auch von seiner Ruhe ein übertriebenes Bild
machte. Es wunderte mich auch, wie er so verlangte, von mir versteckt zu
werden, als handelte es sich um die gewöhnlichste Sache, um einen Dienst, der
ihm entgegenkäme, aber nicht schicksalhaft für ihn wäre. Die Bitte – oder die
Forderung – wiederholte er nicht, er ließ leicht von ihr ab, geriet nicht in
Zorn über meine Ablehnung, sah mich auch nicht an, er lauschte, den Kopf ein
wenig gereckt, keine Hilfe mehr von mir
erwartend. Von keinem mehr erwartete er Hilfe, er wußte, daß ihm jetzt
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