Der Derwisch und der Tod
anderen, wenn sie kämen,
ihn zu holen. Würde er fliehen, würde er bleiben, würden sie ihn fangen? War es
ein Fehler, daß ich ihn nicht verraten oder daß ich ihn nicht in meiner Kammer
versteckt hatte? Er hatte mir gesagt: Was du auch unternehmen würdest, es täte
dir leid. Wie hatte er das treffen können, was nicht einmal mir selbst ganz
klargeworden war? Ich hatte weder für ihn noch gegen ihn sein wollen, ich hatte
eine mittlere Lösung gefunden, die überhaupt keine war, denn nichts wurde durch
sie entschieden, nur die Qual verlängert. Ich würde mich auf eine der beiden
Seiten stellen müssen.
Eine Unzahl von Gründen gab es für
das eine wie für das andere: ihn zu vernichten oder ihn zu retten. Ich war
Derwisch, stand auf Wacht für den Glauben, für die Ordnung; ihm zu helfen,
hätte bedeutet, daß ich meine Überzeugung verriete, daß ich die Sache verriete,
der ich so viele Jahre meines reinen Lebens gewidmet hatte. Unangenehm wäre es
auch für die Tekieh, wenn sie ihn fingen, noch unangenehmer aber, wenn man erführe,
daß ich ihm geholfen hatte, keiner würde mir das verzeihen, und es war höchst
wahrscheinlich, daß man es erfahren würde, er würde es sagen, aus Bosheit oder
aus Angst. Unangenehm auch für meinen Bruder. Für mich wie für meinen Bruder.
Ich würde sowohl meine als auch seine Lage verschlimmern. Man würde einen
gewissen Zusammenhang, eine gewisse Folgerichtigkeit in dieser Tat finden, es
würde aussehen wie meine Rache wegen des Bruders oder so, als hülfe ich einem
anderen, wenn ich schon meinem Bruder nicht helfen konnte. Genug Gründe waren
da, ihn der Obrigkeit preiszugeben, mochte er seinen Streit mit dem irdischen
Recht bestehen, so gut er es konnte.
Doch andererseits, ich bin ein
Mensch, ich wußte nicht, was er getan hatte, nicht meine Sache war es, ihn zu
richten, denn auch das irdische Recht kann irren, warum sollte ich ihn mir auf
die Seele laden und mich mit möglicher Reue belasten. Genug
Gründe gab es auch, ihm zu helfen. Aber sie fielen irgendwie blaß aus, nicht
recht überzeugend, und daß ich sie mir ausdachte und ihnen Sinn gab, geschah
nur, damit sie mir als Schutz vor jenem Eigentlichen, einzig Wichtigen dienten
: daß ich versuchte, durch ihn mich selbst freizusprechen. Er war gerade in
dem Augenblick aufgetaucht, als er das Zünglein an der Waage meines Zauderns
werden konnte. Indem ich ihn verurteilt, ihn der Obrigkeit preisgegeben hätte,
wäre ich über meine Verwirrung hinweggegangen, wäre ich das geblieben, was ich
gewesen war, ohne Rücksicht auf alles Geschehene, so als ob nichts geschehen
wäre, ohne Rücksicht auf den eingesperrten Bruder und auf den Kummer
seinetwegen, hätte ihn geopfert als einen, den man ins Unglück gestürzt und der
sich auch selbst geschadet hat, und wäre weitergewandert auf dem gefestigten
Weg des Gehorsams, der eigenen Qualen nicht achtend. Hätte ich aber zu seiner
Rettung gehandelt, so wäre das für mich eine endgültige Entscheidung gewesen –
ich hätte mich auf der anderen Seite befunden, hätte mich gegen jemanden und
gegen mein eigenes früheres Ich gestellt, wäre meiner Welt untreu geworden. Ich
konnte aber weder das eine noch das andere, das eine widerstrebte mir, weil
meine Sicherheit ins Wanken geraten war, vor dem anderen hielt mich die Macht
der Gewohnheit und die Furcht vor dem Weg ins Unbekannte zurück. Vor zehn
Tagen, als mein Bruder noch nicht im Gefängnis lag, wäre es mir gleich
gewesen, was ich auch getan hätte, ich wäre ruhig geblieben, jetzt wußte ich,
daß es sich entscheiden hieß, und darum blieb ich auf halbem Wege stehen,
unentschieden. Alles war möglich, doch nichts wandelte sich um in Wirklichkeit.
Er aber befand sich im Garten, in
dem alten Häuschen, im Gestrüpp, ständig gingen meine Blicke in dieser
Richtung, nichts rührte sich, nichts war zu hören, es ärgerte mich, daß er
nicht weggegangen war, denn so hätte er alles selbst gelöst, jetzt freilich
konnte er nicht mehr fort, er würde den ganzen Tag hierbleiben müssen, und den
ganzen Tag würde ich an ihn denken und auf die Nacht warten, auf die Retterin
– für ihn oder für mich.
Ich wußte, wie die Tekieh aufwachte.
Zuerst erhob sich Mustafa, wenn er nicht gerade zu Hause schlief, er polterte
mit dem schweren Schuhwerk über die Steinplatten im Erdgeschoß, knallte mit
Türen, trat in den Garten hinaus und vollzog die Waschung vorm Gebet; er wusch
sich den Hals, rieb sich die breite Brust mit Wasser ab und
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