Der Derwisch und der Tod
standen viele Jahre, dabei
trachteten wir danach, zu verbergen, daß das Leben uns auseinandergerückt
hatte. Einen langen Augenblick schauten wir einander an, sein Gesicht war vom
Alter gezeichnet, die Augen hielt er starr auf mich gerichtet, nichts war wie
einst, alles mußte ich in Gedanken hinzufügen, die scharfen, gespannten Züge,
die kraftvolle Stimme, die Schlichtheit eines starken Mannes, der mit seinen
Händen etwas anzufangen weiß, seltsamerweise hatte ich es immer als Bedürfnis
empfunden, ihn mir als rüstigen Mann vorzustellen, lange hatte ich ihn so in
der Erinnerung bewahrt. Gott aber mochte wissen, wie der Vater mich sah, was er
suchte und was er fand. Wir waren zwei Fremde, die sich eigentlich anders
verhalten wollten, doch am quälendsten war es darum, daß wir uns vorstellten,
wie es sein sollte, was wir tun und was wir nicht tun konnten.
Ich beugte mich nieder, ihm die Hand
zu küssen, alle Söhne tun das, aber er ließ es nicht zu, wir faßten einander an
den Schultern, wie gute Bekannte, und so war es am besten, es sah vertraut aus,
war aber nicht übertrieben. Als ich freilich seine noch immer starken Hände an
meinen Armen fühlte, als ich aus der Nähe seine grauen, feuchten Augen sah, als
ich den kräftigen Duft wiedererkannte, der von ihm ausging, der mir von
Kindheit an lieb gewesen war, da vergaß ich meine und seine Verwirrung und
lehnte mit kindlicher Gebärde den Kopf an seine breite Brust, plötzlich von
etwas gerührt, wovon ich meinte, daß es längst verschwunden sei. Vielleicht war
es dann gerade diese Gebärde, die mich aufwühlte, oder die Nähe des Alten
weckte verborgene Erinnerungen, der Duft des Sees ging von ihm aus, der Duft
von Getreidefeldern, vielleicht lag es auch an seiner Aufregung, denn ich
spürte, wie sein Schlüsselbein bebte, an das ich meine Stirn gelehnt hatte,
oder die Natur, ein wunderbarerweise erhalten gebliebener Rest dessen, was
meine Natur sein konnte, hatte die Herrschaft über mich erlangt und überraschte
mich selbst mit einem plötzlichen Ausbruch aufrichtiger Tränen. Es dauerte nur
einen Augenblick, und während die Tränen noch nicht einmal zu trocknen
begannen, schämte ich mich schon dieses lächerlichen kindlichen Verhaltens,
denn es entsprach weder meinen Jahren noch der Kleidung, die ich trug. Doch
seltsam, noch viel später erinnerte ich mich dieser beschämenden Schwäche als
einer grenzenlosen Erleichterung: für einen Augenblick nur war ich aus allem
herausgehoben und der Kindheit zurückgegeben, unter dem Schutz eines anderen
Menschen, befreit von den Jahren, von den vielen Dingen, die geschahen, von den
Qualen der Entscheidung, alles war Händen anheim-gegeben, die stärker waren als
die meinen, ich fühlte mich wunderbar schwach, ohne Bedürfnis nach Stärke,
beschützt von einer alles vermögenden Liebe. Ich wollte ihm erzählen, wie ich
am Abend vorher durch die Straßen gehetzt war, erschreckt von der sündhaften
Erregung der Menschen, selber vergiftet von wunderlichen Gedanken, immer
geschah das so, wenn ich verwirrt und unglücklich war, so als suchte der Körper
einen Ausweg aus den Qualen, diesmal aber
ging es um den Bruder, auch er, der Vater, war seinetwegen gekommen, das wußte
ich, und ich hätte ihm gern gesagt, daß ich einen Flüchtling in der Tekieh
versteckt und daß ich nicht gewußt hatte, was ich tun solle, daß in mir alles
aus dem Gleichgewicht geraten war, daß ich darum mich selbst und ihn hatte
strafen wollen, heute morgen und auch jetzt, eben noch, obschon es gleichgültig
war, nichts befand sich mehr an seinem Platz, und darum suchte ich Halt an
seiner Brust, klein und schwach wie einst.
Als die Rührung aber vorüber war,
schnell wie ein aufzuckender Blitz, sah ich vor mir den alten Mann verwirrt und
erschrocken von meinen Tränen, und ich wußte, sie waren dumm und unnütz
gewesen. Sie konnten ihm alle Hoffnung töten, denn er dachte nur an das eine.
Oder sie konnten ihm einreden, ich hätte im Leben versagt, doch das stimmte
nicht. Ich wußte auch genau, nichts von alledem, was ich ihm zu sagen die
Absicht hatte, würde er begreifen, obgleich meine Absicht schon keine mehr war,
sondern ein leidenschaftlicher Wunsch, der Wunsch eines Kindes, eines Hilflosen
– seine entsetzten Augen und die wachen Hüter meiner Vernunft würden mich am
Aussprechen hindern. Wir wünschten voneinander dasselbe, er verließ sich auf
meine, ich verließ mich auf seine Kraft, ohnmächtig wir beide, und das war
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