Der Derwisch und der Tod
ich wollte ihm nichts davon merken
lassen, daß dem Bruder meine Gegenwart nichts geholfen hatte und daß auch mein
Ansehen in Frage gestellt war. Wie hätte er begreifen können, daß des Bruders
Schuld ein wenig auch auf mich fiel?
Ich trat aus der Herberge unter der
Last der Verpflichtung, die ich aus Rücksicht übernommen hatte, nicht wissend,
wie ich sie erfüllen solle, niedergedrückt von einem unvorsichtigen Wort, das
dem Vater in seinem Kummer entschlüpft war. Niemals hätte er es ausgesprochen,
hätte er sich in der Gewalt gehabt, daran sah ich, wie tief sein Kummer war.
Und ich sah auch, daß er mich abgeschrieben hatte, für ihn gab es mich nicht
mehr, es war, als wäre ich tot, nur der andere war ihm noch geblieben. So würde
ich es auch den Leuten sagen müssen: Ich bin tot für den Vater, nur der andere
ist ihm noch geblieben, gebt ihn dem Vater zurück. Mich gibt es nicht mehr.
Friede der Seele des sündigen Derwischs Ahmed, er ist gestorben, es sieht nur
so aus, als lebe er. Niemals hätte ich dies erfahren, wie er über mich dachte,
hätte ihn nicht der Kummer unbedacht gemacht. Jetzt aber wußte ich es, ich sah
mich anders, wie mit fremden Augen. Ist denn der Weg, den ich gewählt habe, so
nichtig für meinen Vater, daß er mich deswegen lebendig begräbt? Bedeutet das,
was ich tue, für ihn gar nichts, sind wir denn so weit auseinandergerückt, so
anders, gehen unsere Wege so weit auseinander, daß er nicht einmal meine
Existenz anerkennt? Nicht einmal Bedauern zeigte er darüber, daß er mich
verloren hatte, so lange lag dieser Verlust zurück, so gründlich war er
verschmerzt. Vielleicht übertrieb ich auch, vielleicht wäre der Vater auch
meinetwegen geradeso herbeigeeilt, wenn mich ein Unheil betroffen hätte, und
hätte nur an mich gedacht, denn am nächsten steht einem der, der es am
schwersten hat.
Was geschah da auf einmal mit mir,
was für ein Stein löste sich da aus dem Fundament, so daß alles einzustürzen
und zu zerfallen begann? Das Leben hatte ausgesehen wie ein starkes, festes
Gemäuer, in dem sich kein einziger Riß zeigte, ein unverhoffter Stoß aber,
sinnlos und durch nichts verschuldet, stürzte das stolze Gebäude, als wäre es
aus Sand.
Vom Berg herunter, aus dem Zigeunerviertel, das sich
den Hang hinauf zum Stadtrand hinzieht, tönte ohrenbetäubendes Trommelschlagen
und pfiff schrill die Zurna, die Ausgelassenheit des Georgstages brach über die
Stadt herein wie ein Gewitterregen, nicht nachlassend – nirgendwohin konnte
man vor ihm fliehen.
Ihr Narren, dachte ich zerstreut –
der Ärger von gestern regte sich wieder. Sie haben ja keine Ahnung, daß es
wichtigere Dinge auf der Welt gibt.
Aber mein Zorn war nicht so heiß wie
am Abend vorher. Es war nicht einmal Zorn, sondern eher
Gekränktheit. Dieses ausgelassene Treiben störte und war ungerecht, es
belastete noch meine Sorgen. Ich hatte mich ganz in die Sorgen verwandelt, sie
waren meine Welt und mein Leben geworden, außerhalb ihrer bestand nichts.
Unbeherrschbar schwer war alles, was
zu tun mir offenstand, es war wie eine Überschreitung alles Gewohnten und
Erlaubten oder wie die ersten Schritte im Leben. Doch ich mußte es tun, meiner
selbst wegen, weil ich sein Bruder war, seinetwegen, weil er mein Bruder war,
und ich hätte keinen anderen, keinen besseren Grund gesucht, außer dem, der auf
der Hand lag, der schön klang und sich von selbst verstand, wäre nicht dieser
Unfriede in mir gewesen, diese Unruhe voll düsterer Ahnung, die mich trieb, mit
galligem Grimm an den eingesperrten Bruder zu denken: Warum hatte er mir das
angetan? Anfangs versuchte ich, diesen selbstsüchtigen Gedanken abzuwehren. Es
ist nicht schön, sagte ich zu mir selbst, daß du seine Not nur als dein eigenes
Unglück betrachtest, er ist Blut von deinem Blut, du mußt ihm helfen, ohne an
dich selbst zu denken.
So wäre es schöner gewesen, so hätte
ich stolz sein können auf meine edle Absicht, aber es gelang mir nicht, die
Sorge um mich selbst abzutun. Und ich antwortete meiner ohnmächtigen reinen
Absicht: Ja, er ist mein Bruder, aber gerade darum ist es schwer, auch auf mich
hat er einen Schatten geworfen. Die Leute sahen mich mißtrauisch, spöttisch
oder mitleidig an, einige wandten den Kopf ab, damit unsere Blicke sich nicht
träfen. Ich redete mir selber zu: Das kann gar nicht sein, das kommt dir nur so
vor, jeder weiß, daß die Handlung deines Bruders nicht die deine ist, mag sie
sein, wie sie will.
Doch vergebens, die
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