Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meša Selimović
Vom Netzwerk:
das
Traurigste an diesem zwecklosen Wiedersehen.
    Ich fragte ihn, warum er nicht in
die Tekieh gekommen sei, sagte ihm, daß auch unbekannte Reisende bei uns rasten,
und er wisse doch, welche Freude er mir bereitet hätte. Auch die Leute würden
sich wundern, warum er woanders Nachtlager suche, wir hätten uns doch weder
verzankt noch einander vergessen. Es sei auch nicht angenehm in der Herberge,
allerlei Volk kehre da ein, sie tauge gerade für jemand, der keinen Verwandten,
keinen Freund hier habe – wer könne wissen, wer da alles kommt und geht,
schlimme Menschen gebe es heutzutage.
    Auf all mein Zureden, mit dem ich
das hinausschob, was kommen mußte, antwortete er nur das eine: Er sei gestern
abend spät angekommen und habe mich nicht stören wollen.
    Er winkte ab, als ich ihn fragte, ob
er von dem Mord in der Herberge wisse. Er wußte davon.
    Er ging nicht darauf ein, in die
Tekieh zu kommen, am Nachmittag wollte er sich auf den Rückweg machen,
übernachten würde er bei Freunden in einem Dorf.
    „Bleib ein, zwei Tage, ruh' dich
aus."
    Wieder winkte er ab, mit der Hand
und dem Kopf. Früher hatte er schön und gemessen gesprochen, sich für alles
Zeit gelassen, die Wörter zu wohlgefügten Sätzen verbunden, Ruhe und Sicherheit
hatte in dieser Art des Sprechens gelegen, das bedächtig war und frei von Hast,
er schien über den Dingen zu stehen, sie zu beherrschen, er glaubte an den
Klang und den Sinn des Wortes. Jetzt aber bedeutete das kraftlose Abwinken, daß er vor dem Leben die Waffen
streckte, daß er auf die Worte, die das Unglück weder verhindern noch erklären
konnten, verzichtete. Und mit dieser Bewegung verschloß er sich, verbarg er
seine Verwirrung vor dem Sohn, mit dem er nicht einmal mehr sich zu unterhalten
wußte, verbarg das Erschrecken vor der Stadt, die ihn mit Verbrechen und
Finsternis empfangen hatte, die Hilflosigkeit gegenüber den Nöten, die den
Abend seines Lebens verdarben. Er mußte nur das erledigen, weswegen er
gekommen war, und würde dann gleich wieder aus der Stadt fliehen, die ihm alles
genommen hatte, was sein eigen gewesen war, die Söhne, die Sicherheit, den
Glauben an das Leben. Er sah sich um, dann blickte er zu Boden, preßte die
knotigen Finger, verbarg die Augen. Mir war schwer und weh ums Herz.
    „Verstreut leben wir", sagte
er, „nur das Unglück führt uns zusammen."
    „Wann hast du es gehört?"
    „Vor ein paar Tagen. Fuhrleute kamen
und sagten mir's."
    „Und du hast dich gleich aufgemacht?
Bist erschrocken?"
    „Ich wollte an Ort und Stelle
nachsehen."
    Wir unterhielten uns über den
eingesperrten Bruder und Sohn wie über einen Toten, seinen Namen nicht nennend,
er, der Verschwundene, hatte uns ja zusammengeführt. Wir dachten an ihn, auch
wenn wir über alles andere sprachen.
    Jetzt blickte der Vater mit Angst
und Hoffnung auf mich, alles, was ich sagen würde, hätte für ihn die Kraft
eines Urteils. Er äußerte keine Furcht, keine Erwartung, hütete sich
abergläubisch, etwas Bestimmtes zu sagen, fürchtete sich vor dem bösen Zauber
des Wortes. Er nannte einzig den letzten Grund, der ihn auch hergeführt hatte:
    „Du bist hier angesehen, kennst alle
die Oberen."
    „Es ist nichts Gefährliches. Er hat
etwas gesagt, was er nicht hätte sagen sollen."
    „Was hat er gesagt? Wird man denn
auch für ein Wort eingesperrt?"
    „Heute gehe ich zum Muselim [12] . Damit ich den
Grund erfahre und um Gnade bitte."
    „Ob auch ich gehen sollte? Ich werde
sagen, sie haben sich geirrt, haben den anständigsten Menschen eingesperrt, er
kann nichts Schlimmes tun, oder ich werde niederknien, damit sie den Kummer des
Vaters sehen. Auch zahlen werde ich, wenn es nötig ist, werde alles verkaufen
und zahlen, wenn sie ihn nur freilassen."
    „Sie werden ihn freilassen, du
brauchst nirgendwohin zu gehen."
    „Dann warte ich hier. Ich bleibe in
der Herberge, bis du zurückkommst. Und sag ihnen, einzig er ist mir noch
geblieben. Ich hätte mich darauf verlassen, daß er wieder nach Hause kommt,
damit mir das Herdfeuer nicht erlöscht. Aber ich würde auch alles verkaufen,
nichts brauche ich."
    „Mach dir keine Sorgen, alles wird
gutgehen, mit Gottes Erbarmen."
    Außer dem Erbarmen Gottes hatte ich
alles ausgedacht, mir fehlte der Mut, ihn ohne Hoffnung zu lassen, und ich
konnte ihm auch nicht sagen, daß ich über den Bruder nichts wußte. Der Vater
lebte in der naiven Überzeugung, ich sei durch meine Gegenwart und mein Ansehen
ein möglicher Schutz für den Bruder, und

Weitere Kostenlose Bücher