Der Derwisch und der Tod
zügeln vermocht. Alles, was man in einer
solchen Lage tut, schadet gewöhnlich, es ist die Pose dummen Heldentums, ein zweckloser
selbstmörderischer Trotz, der nicht lange anhält und der bewirkt, daß man mit
sich selbst unzufrieden ist. Und daß man, wenn es zu spät ist, die Sache immer
wieder durchdenkt, was zu nichts führt.
Geschehen war das, was ich am
meisten gefürchtet hatte, nun hatte ich es zu hören bekommen: ich verteidigte
den Bruder und stellte mich damit gegen das Gesetz. Wenn es sich wirklich so
verhielt, wenn es jemandem schien, als sei es so – ich wußte ja, es war nicht
so –, wenn die Menschen nun glauben würden, mein persönlicher Verlust mache
mich blind und taub für alles außerhalb meiner, dann war alles so ausgegangen,
wie es gar nicht schlimmer hätte ausgehen können, und meine dunklen Ahnungen
hatten mich nicht getrogen. Das schlimmste aber war, daß ich meinen Bruder in
Wahrheit gar nicht verteidigt hatte, ich hatte mich nur in einem einzigen
Augenblick der Vernunft gegen die schreckliche Härte empört, aber ich stand
weder auf der Seite des Bruders noch auf der des Muselims. Ich stand nirgendwo.
Es war mir lieb, daß sich die Mittagszeit näherte,
daß ich nicht allein bleiben würde, im Gebet würde ich mich von diesem Tage
lösen, würde die quälenden Gedanken draußen vor der Tür der Moschee
zurücklassen, gewiß würden sie dort auf mich warten, aber wenigstens einige
Zeit würde ich frei von ihnen sein.
Als ich vor wenige Gläubige hintrat
und das Gebet begann, spürte ich stärker als jemals den beschützenden Frieden
des vertrauten Ortes, den dichten, warmen Duft geschmolzenen Wachses, die
heilsame Stille der weißen Wände und des rußigen Deckengewölbes, die
mütterliche Zärtlichkeit des Sonnenlichtes, das auf den goldenen Staubkörnchen
funkelte.Dies war mein Reich, abgewetzte Teppiche, kupferne Leuchter, das Mihrab [14] ,
die Gebetsnische, wo ich vor den versunken knienden Menschen bete, meine innere
Ruhe und Sicherheit – seit Jahren fühle ich mich hier zu Hause, ich kenne das
Teppichmuster, auf dem mein Fuß steht, es ist abgeschabt und verblichen, meine
Spur habe ich auf etwas hinterlassen, was uns überdauert, Tag für Tag vollziehe
ich die heilige Pflicht in diesem Hause, das mein Haus geworden ist, unser
Haus und Gottes Haus, wobei ich vor mir selbst verberge, daß ich es vor allem
als meines zu sehen begonnen habe. An jenem Tage aber, jenem Mittag, als ich,
befreit von dem Alp, aus der sonderbaren Welt, an die ich nicht gewöhnt war, in
diese gedämpfte Stille zurückkehrte, da vollzog ich keine Pflicht, ich war
sicher, daß nicht ich jemandem diente, sondern daß alles mir diente, daß es
mich beschirmte und heimführte, daß es einen häßlichen Traum von etwas
Verworrenem auslöschte. Ich tauchte in die Wonne des vertrauten Gebetes,
spürte, wie ich das Gleichgewicht, das gestört gewesen war, wiederfand – dank
all dem, was seit Jahren mein eigen war, dank den wohlvertrauten Düften, dem
Gemurmel der Menschen, dem dumpfen Aufstoßen der Knie, dank den immer gleichen
Gebeten, dank dem Kreise, der sich wie eine Schutzwehr, wie eine Festung
schloß, mich rechtfertigend und bestätigend. Ohne das Gebet zu unterbrechen –
der Mund sprach es wie von selbst –, sah ich, wie ein Sonnenstrahl durch die
Scheibe drang, sich spielerisch, mich herausfordernd, vom Fenster zu meinen
Händen spannte; ich hörte ein fröhliches, zwitscherndes Sperlingsgezänk rings
um die Moschee, das unaufhörliche Plätschern der Stimmen, die mir lustig gelb
vorkamen, wie Korn in der Sonne; etwas Warmes und Heiteres schwebte um mich,
hob mich heraus, weckte Erinnerungen an das, was einst gewesen war, ich wußte
nicht, wann, ich wußte nicht, wo, doch es war gewesen, ich hatte kein
Bedürfnis, es zu beleben, denn es lebte ja, stark und lieb wie einst, wie nie,
ungeformt und darum allumfassend, es war gewesen, ich wußte es, vielleicht in
der Kindheit, die nicht mehr im Erinnern besteht, sondern im Beklagen,
vielleicht in dem Wunsch, daß es so sein und bleiben möge, durchsichtig,
leicht, wie ein Schwanken im Wind, wie stillfließendes Wasser, gemessen
pulsendes Blut, grundlose sonnige Freude, und ich wußte, es war Sünde, dieses
Vergessen im Gebet, diese Wonne des Körpers und des Geistes, doch ich konnte
mich nicht losreißen, wollte nicht, daß dieses wundersame Vergessen abbräche.
Und dann brach ich es selbst.
Auf einmal war mir, als kniete
hinter meinem Rücken,
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