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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meša Selimović
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zwischen den Betenden, mein Flüchtling von gestern abend.
Ich wagte nicht, mich umzudrehen, doch ich war sicher, daß er sich in der
Moschee befand, er war nach mir eingetreten, oder ich hatte
ihn nicht gesehen. Seine Stimme klang anders als die übrigen, tiefer war sie
und männlicher, sein Gebet war kein Bitten, sondern ein Fordern, seine Augen
blickten scharf, seine Bewegungen waren geschmeidig, er hieß Ishak, so nannte
ich ihn, weil er hier war und weil ich seinen Namen nicht wußte, ihn aber
wissen mußte. Er war meinetwegen gekommen, um mir zu danken, oder seiner selbst
wegen, um sich den Verfolgern zu entziehen. Nach den Gebeten würden wir allein
bleiben, dann könnte ich ihn fragen, was ich heute nacht versäumt hätte. Ishak,
wiederholte ich, Ishak – es war der Name meines Onkels, den ich als Kind sehr
geliebt hatte, eines Bruders meiner Mutter, Ishak, ich weiß nicht, warum ich
die beiden in Gedanken verband und wie und warum ich so beharrlich die Kindheit
beschwor, sicher war das eine Flucht. Eine Flucht vor dem Bestehenden, der
Drang, mich zu retten durch unbewußtes Erinnern und durch den irren Wunsch, daß
es die Wirklichkeit nicht gebe, einen unerfüllbaren Wunsch, er hätte mich zur
Verzweiflung bringen können, wäre es ein auf Erfüllung gerichteter Gedanke
gewesen, und trotzdem, jetzt und hier begann er sich zu erfüllen, in Augenblicken,
in Zuckungen, in nebelhafter Entrücktheit, in der der Körper und unbekannte
innere Kräfte den verlorenen Frieden suchten. Ich dachte in diesem Augenblick
nicht daran, daß dem Vergessen nur kurze Dauer beschieden war, als sich aber
der Gedanke an Ishak einstellte, wußte ich, daß mein Frieden sich wieder
trübte, denn auch Ishak gehörte zu jener Welt, an die ich nicht denken wollte.
Vielleicht geschah es gerade deswegen, daß ich ihn im Raum ferner Träume
unterzubringen wünschte, ihn von dem Augenblick, aus der Zeit löste, in der wir
nicht zusammen sein durften. Ich wollte mich umdrehen, mein Gebet blieb
seinetwegen leer, geschrumpft zu Worten ohne Inhalt, dabei länger dauernd als
sonst.
    Worüber würde ich mit ihm sprechen?
Von sich selbst würde er nichts sagen, davon hatte ich mich gestern abend
überzeugt. Über mich würden wir sprechen. Hierher würden wir uns setzen, in
diesen leeren Raum der Moschee, in der Welt, und doch von ihr entrückt, allein,
er würde sein sicheres, fernes Lächeln zeigen, das nicht einmal ein Lächeln
war, sondern scharfsichtige Kälte, ein Blick, der alles sieht, doch über nichts
sich wundert, er würde mir aufmerksam zuhören, die Augen auf das Teppichmuster
vor sich oder auf den Sonnenstrahl gerichtet, der beharrlich den Schatten
durchbohrte und Funken sprühen ließ, und der Mann würde mir eine Wahrheit
sagen, von der mir leichter würde.
    Während ich mir dieses Gespräch
vorstellte, vergegenwärtigte ich mir seine Gestalt, sein Gesicht, ich fand
nichts Seltsames dabei, daß ich so viele Züge von ihm behalten hatte, ich
wartete darauf, daß wir allein blieben, wie gestern abend, daß wir das
ungewöhnliche Gespräch fortstetzten, nichts voreinander verhehlend. Dieser
ruhelose, aufbegehrende Mensch, der ganz im Gegensatz zu all dem dachte, was
ich denken konnte, erschien mir durch eine Laune des vollkommenen Widersinns
als einer, auf den ich mich stützen könnte. Alles, was er getan hatte, war
wahnwitzig, alles, was er gesprochen hatte, war unannehmbar, dennoch hätte ich
mich einzig ihm anvertrauen können, denn er war unglücklich und dabei redlich,
er wußte nicht, was er wollte, doch er wußte, was er tat, er würde töten, aber
nicht verraten. Und während ich mir so im Herzen die guten Eigenschaften eines
gänzlich unbekannten Abtrünnigen ausmalte, bemerkte ich gar nicht, was für
einen Weg ich seit gestern abend zurückgelegt hatte. Am Morgen noch hatte ich
ihn den Stadtwächtern übergeben wollen, und am Mittag stand ich auf seiner
Seite. Aber auch am Morgen war ich nicht gegen ihn gewesen, und auch jetzt
hätte es geschehen können, daß ich ihn verriete, diese beiden Dinge hatten
nichts miteinander zu tun, oder sie hatten miteinander zu tun, aber irgendwie
verkehrt, ganz verdreht. Im Grunde war ich nur sicher, daß er, Ishak, der
Aufrührer, mir bestimmte Dinge erklären könnte, die sich in mir zu einem Knoten
verschlungen hatten. Einzig er. Ich wußte nicht, warum, vielleicht weil er
gelitten hatte, weil er in Schmerzen Erfahrung gewonnen, weil ihn das
Aufbegehren von den Fesseln gewohnter

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