Der Derwisch und der Tod
Denkweise befreit hatte, weil er keine
Vorurteile kannte, weil er mit den Ängsten Schluß gemacht, weil er einen Weg
eingeschlagen hatte, der keine Flucht zuließ, weil er schon verurteilt war und
nur als Held den Tod hinausschob. Solche Menschen wissen viel, mehr als wir,
die wir ängstlich schwanken zwischen der gelernten Regel und der Angst vor der
Sünde, zwischen der Gewohnheit und dem Bangen vor der immer möglichen Schuld.
Und obgleich ich nie den Weg der Abtrünnigkeit betreten würde, nicht einmal in
Gedanken, hätte ich doch gerne seine Wahrheit gehört. Worüber?
Ich weiß nicht, worüber. So würde
ich zu ihm sprechen:
Seit zwanzig Jahren bin ich
Derwisch, als kleines Kind begann ich die Schule zu besuchen, und ich weiß
nichts mehr außer dem, was sie mich lehren wollten. Sie lehrten mich zu
gehorchen, zu dulden, für den Glauben zu leben. Bessere als mich gab es,
Ergebenere gibt es nicht viel. Immer wußte ich, was ich zu tun habe, der
Derwischorden dachte für mich, die Grundlagen des Glaubens aber sind fest und
weit, und nichts war mir eigen, was sich in sie nicht hätte einbeziehen lassen.
Ich hatte ein Elternbaus, es lebte sein eigenes Leben, zu ihm gehörte ich
durch das Band des Blutes und durch fernes Erinnern, durch die Kindheit, die
ich mein Leben lang zu verschütten trachte, mir vortäuschend, sie sei tot, zu
ihm gehörte ich, weil es so sein muß, ich hatte sie gern, diese Liebe ohne
Berührung und Nutzen, obgleich sie darum auch kalt blieb. Es gab Menschen, die
ich die Meinen nannte, und das genügte mir, auch ihnen wohl, drei Wiedersehen
in diesen zwanzig Jahren haben nichts verdorben und nichts gebessert, sie haben
meinen Dienst am Glauben nicht gehemmt und nicht gefördert, obgleich ich eher
Stolz darüber empfand, eine größere Familie gefunden, als Trauer darüber, mich
von meiner eigenen entfernt zu haben. Nun also ist es geschehen, daß mein
Bruder ein Unglück traf. Ich sage dieses Wort, denn ich weiß nicht das richtige,
ich kann nicht sagen, ob es Recht oder Unrecht ist, und hier beginnt die Qual.
Ich liebe nicht die Gewalt, ich meine, sie ist ein Zeichen von Schwäche und
Unvernunft, eben dadurch werden die Menschen zum Bösen gedrängt. Dennoch, wenn
anderen Gewalt angetan wurde, schwieg ich, ich weigerte mich, es zu
verurteilen, machte andere verantwortlich, oder ich gewöhnte mich daran, nicht
an Dinge zu denken, an denen ich nicht schuld war, ja, ich ließ sogar gelten,
daß manchmal etwas Böses getan werden müsse um eines höheren und wichtigeren
Gutes willen. Als aber die Geißel der Macht meinen Bruder traf, da peitschte
sie auch mich bis aufs Blut. Ich meine, es war Unrecht, ich kenne meinen
Bruder, er ist eines Verbrechens nicht fähig. Doch, ich verteidige ihn nicht,
und ich rechtfertige nicht die andern, mir kommt nur vor, als würden sie alle
zusammen mir etwas Schlimmes zufügen, gegen mich gehen, sie haben mein Dasein
zerrüttet, mich dem Leben außerhalb meiner eigentlichen Bahn gegenübergestellt.
Was bin ich jetzt? Ein verkümmerter Bruder oder ein unzuverlässiger Derwisch?
Habe ich die menschliche Liebe verloren oder die Festigkeit des Glaubens
verletzt und somit alles verloren? Lieb wär mir's, könnt ich um den Bruder
weinen, wie er auch sei, oder könnt ich unbeirrt ein Hüter des Gesetzes sein,
mag es auch um das Schicksal meines Bruders gehen, mag es mir auch weh tun.
Doch ich kann weder das eine noch das andere. Was soll das heißen, Ishak, du
Aufrührer und Märtyrer, der du dich auf die eine Seite gestellt hast und nichts
von Unentschlossenheit weißt: Habe ich das Menschentum oder den Glauben
verloren? Oder beides? Und was ist dann von mir übriggeblieben, eine leere
Hülle, ein Grab, ein Grabstein ohne Zeichen? Furcht hat mich ergriffen, Ishak,
Furcht und Verwirrung, keinen Schritt wage ich mehr zu tun, nicht nach der
einen, nicht nach der anderen Seite, ich finde keinen Halt mehr, ich werde
untergehen.
Ich wandte mich nicht um, ihn zu
sehen, denn ich glaubte nicht, daß er noch da sei, ich wußte auch nicht, was
ich ihm sagen könnte von all der Qual, die nicht einmal einen Namen hatte. Und
gefährlich war der Gedanke, gerade ihm anzuvertrauen, was ich keinem sonst
sagen würde. Kein einziger Derwisch kam mir in den Sinn, keiner der Menschen,
denen ich ständig begegnete, sondern ein Abtrünniger, ein Flüchtiger, ein
Mensch außerhalb der Gesetze. Meinte ich, einzig er wäre nicht überrascht, wenn
er es hörte? Glaubte ich, einzig er würde
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